Was ist eine pathozentrische Umweltethik? Einfach erklärt: Welche Probleme einer Definition und Umsetzung ergeben sich bei einer pathozentrischen Ethik, auch Pathozentrik oder Pathozentrismus genannt?
INHALT
Ansätze und Positionen moderner Vertreter der Tierrechtstheorie
Die Fünf Freiheiten von Tieren als Bewertungskriterien für Tierwohl
Was bedeutet pathozentrisch (englisch: pathocentric)? Was versteht man unter Pathozentrismus?
In der pathozentrischen Umweltethik (von griechisch pathein = fühlen, leiden und lateinisch centrum = Mittelpunkt) werden allen leidensfähigen Lebewesen Rechte zugesprochen.[1]
Sie basiert auf der Überzeugung, „dass alles Leben verwandt ist und dass insbesondere Menschen und Tiere auf ähnliche Weise leben und leiden“.[1]
Daher darf der Mensch die Tiere in der Natur nicht weiter aus ihren Rückzugsgebieten verdrängen und sie nicht zu eigenen Zwecken nutzen, die mit Schmerz und Leid für die Tiere verbunden sind.[2]
Die anthropozentrische Sonderstellung der Menschen als alleinige Träger von eigenständigen Rechten wird im Pathozentrismus somit teilweise aufgehoben.
Pflanzenschutz wird in der pathozentrischen Philosophie deshalb betrieben, weil Pflanzen die Lebensgrundlage von Menschen und leidensfähigen Tieren sind und nicht weil Pflanzen eigene Rechte haben.
Erst die biozentrische Umweltethik bzw. der Biozentrismus gesteht auch Pflanzen eigene Rechte zu.
Die eingangs getroffene Definition einer Pathozentrik lässt offen, ob leidensfähige Tiere ein Recht auf Leben haben oder ob sie von Menschen auch schmerzfrei getötet werden dürfen.
Ebenso lässt sie unbeantwortet, ob Menschen leidensfähige Tiere gentechnisch verändern dürfen oder ob ein solcher Eingriff in die Natur mit einer pathozentrischen Ethik unvereinbar ist.
Die Massentierhaltung und Tierversuche lassen sich nicht mit einem konsequent angewendeten Pathozentrismus vereinbaren, da sie Schmerzen und Leid von leidensfähigen Lebewesen verursachen.
Als Kritik an einer pathozentrischen Umweltethik ließe sich einwenden, dass das Leid von Menschen wegen ihrer Fähigkeit zu denken größer sei als das von Tieren.
Aus diesem Grund argumentieren Gegner einer pathozentrischen Ethik, es könne nicht richtig sein, wenn alle leidensfähigen Lebewesen gleiche Rechte um ihrer selbst willen genießen.[2]
Befürworter einer pathozentrischen Ethik argumentieren, dass Tieren im Unterschied zu Menschen das folgende Wissen fehlt:
Schmerzen können bisweilen nötig sein, um Schlimmeres zu verhindern.
Der Tod stellt das Ende allen Leidens dar.
Schmerzen können zeitlich begrenzt sein und bekämpft werden.[2]
Für die Beurteilung, wie stark Lebewesen unter Schmerzen leiden, wäre es demnach von Bedeutung, inwieweit Lebewesen bei
erlittenen Schmerzen erkennen können,
welche Gründe sie haben,
wie lange sie dauern und
welche Folgen sie haben.
Wenn Menschen wissen, dass Schmerzen lange oder für immer andauern
können, kann ihr Leiden größer sein als das von Tieren, denen dieses
Wissen fehlt.
Wenn Menschen wissen, dass Schmerzen nur kurz andauern, und wenn sie den Grund dieser Schmerzen verstehen, kann ihr Leiden geringer sein als das von Tieren, denen dieses Wissen fehlt.
Tiere leiden also unter den Schmerzen einer medizinischen Behandlung wie dem Verabreichen einer Spritze, deren Notwendigkeit sie nicht verstehen können, möglicherweise stärker als Menschen.
Umgekehrt können Menschen unter einer medizinischen Behandlung stärker leiden als Tiere, wenn sie, beispielsweise bei einer Zahnbehandlung, wissen, dass weitere Schmerzen folgen können.
Für die Beurteilung von Pro- und Contra-Argumenten zum Pathozentrismus kann daher die Frage relevant sein, über welches Wissen Lebewesen im Moment der Schmerzerfahrung verfügen.
Die Anwendung einer pathozentrischen Umweltethik zur Verbesserung des Tierschutzes ist in der Praxis mit diversen Problemen und Herausforderungen verbunden, die im Folgenden erörtert werden.
Die Frage, wie Tiere ihr Leiden äußern und wie die Schmerzen von Tieren gemessen werden können, ist von zentraler Bedeutung für die Durchführbarkeit einer pathozentrischen Umweltethik.
Denn die Messbarkeit von Schmerzen und Leiden bei Tieren ist Voraussetzung dafür, überhaupt bestimmen zu können, welche Tiere leidensfähig sind und welche nicht.
Bereits die objektive Bestimmung von Schmerzen und Leiden bei Menschen ist schwierig, da Menschen das Leiden anderer Menschen nur indirekt und aus ihrer eigenen Schmerzerfahrung heraus erfassen können.
Noch schwieriger gestaltet sich die objektive Bestimmung von Schmerzen und Leiden bei Tieren, denen von Natur aus die Fähigkeit zum Sprechen fehlt.
Folglich können Tiere einen empfundenen Schmerzgrad weder sprachlich noch auf einer Schmerzskala zum Ausdruck bringen.
Solange es keine objektive Schmerzmessung gibt, können Menschen immer nur subjektiv von ihren eigenen Schmerzerfahrungen auf die Schmerzen von Tieren schließen.
Bei der praktischen Anwendung einer pathozentrischen Ethik können somit nur Menschen stellvertretend für die Tiere deren Schmerzen oder Leiden beurteilen.
Allerdings ist diese Stellvertreterfunktion in der Praxis mit dem Problem konfrontiert, dass Menschen unterschiedlich schmerzempfindlich sind und Schmerzen unterschiedlich äußern.
Manche Menschen sind sogar in hohem Maße dazu fähig, ihre
Gefühle oder Schmerzen vor der Außenwelt zu verbergen oder nahezu
auszuschalten (Analgesie). Beispiele hierfür sind:
Antrainierte Schmerzunempfindlichkeit von Fakiren, Kampfsportlern und Soldaten
Anerzogene Gefühlstaubheit von klein auf („Ein Indianer kennt
keinen Schmerz“, „Heulsuse“, „Angsthase“, „Weichei“, „Was uns nicht umbringt, macht uns härter“, „Männer weinen nicht“)
Darüber hinaus können erlebte Traumata den Ausdruck seelischer Schmerzen beeinflussen. Dies dürfte gleichermaßen für Menschen und Tiere gelten.
Fraglich ist daher bei der praktischen Umsetzung einer pathozentrischen Umweltethik, ob sich von Schmerzen und Leiden bei Menschen auf die Schmerzen und Leiden bei Tieren schließen lässt.
Gemäß der eingangs vorgestellten Definition wird im Pathozentrismus die Forderung aufgestellt, dass alle schmerz- und leidensfähigen Lebewesen eigene Rechte haben sollen.
Folglich muss diese Forderung auch für alle schmerz- und leidensfähigen Tiere gelten. Was zunächst selbstverständlich klingt, erweist sich in der Praxis als problematisch:
Wie sich in westlichen Industrieländern zeigt, wird dort zwischen „höherwertigen Tieren“ und „niederwertigen Tieren“ unterschieden, selbst wenn diese in ihrer Leidensfähigkeit auf einer Stufe stehen.
Wie ist es sonst zu erklären, dass „höherwertigen“ Haustieren wie Katzen und Hunden größtenteils mehr Rechte zugesprochen werden als „niederwertigen“ Nutztieren wie Enten, Hühnern, Puten (Truthähnen), Rindern, Schafen, Schweinen und Ziegen?
Foto: Kurzhaar-Dackel auf einer Garten-Wiese *
Hinzu kommt, dass sogenannte „niederwertige“ Nutztiere als Futter für „höherwertige“
Haustieren verwendet werden, was sich in der Werbung von Hundefutter- und Katzenfutterherstellern widerspiegelt.
Dabei lassen sich Werbeslogans wie „Wer seinen Hund liebt, gibt ihm Hundefutter der Marke x“ oder „Katzen würden Katzenfutter der Marke x kaufen“ nicht mit einer pathozentrischen Ethik vereinbaren.
Es stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien Menschen festlegen, welche Tiere „höherwertig“ und welche Tiere „niederwertig“ sind, um ihnen unterschiedliche Rechte zuzusprechen.
Eine Erklärung für die Ungleichbehandlung von Tieren könnte sein, dass Menschen bestimmte Tiere besonders sympathisch finden oder bestimmte Tiere einen emotionalen Nutzen für Menschen haben.
Zu Haustieren, die in ihren privaten Räumlichkeiten leben, bauen viele Menschen eine ähnlich starke emotionale Bindung auf wie zu Freunden, Kindern und Familienmitgliedern.
Zu Nutztieren, die in entfernten Ställen, Gehegen, Käfigen, Legebatterien, Weiden oder Laboren leben, bauen viele Menschen dagegen keine emotionale Bindung auf. Dafür könnte es psychologische Gründe geben:
Menschen anonymisieren die Nutztiere, verdrängen ihr Schicksal und übertragen die Verantwortung für ihr Leid auf andere Menschen, beispielsweise in Schlachthäusern, Tierversuchslaboren oder Tiertransportunternehmen.
Ein weiterer Grund für die gelebte Doppelmoral gegenüber Tieren könnte ihre Größe sein. Im Gegensatz zu Hunden oder Katzen eignen sich Rinder, Schafe oder Schweine nicht als Haustiere in Wohnungen.
Foto: Ein Kater als Freigänger auf einer Garten-Terrasse *
Allerdings würden sich auch Hühner, Truthähne (Puten) oder Enten aufgrund ihrer
Größe als Haustiere eignen.
Die Größe von Tieren bietet somit keine alleinige Erklärung dafür, warum die einen als Haustiere und die anderen als Nutztiere von den Menschen gehalten werden.
Als weitere Erklärung könnten das Aussehen und die Verhaltensweisen bestimmter Tiere infrage kommen, weshalb sie auf Menschen „sympathischer“ wirken als andere Tiere und eher als Haustiere in Frage kommen.
Wie sich zeigt, ist die willkürliche Zuordnung von Tieren als Haustiere und Nutztiere mit jeweils unterschiedlichen Rechten nicht schlüssig bei der praktischen Umsetzung einer pathozentrischen Umweltethik begründbar.
Im Pathozentrismus haben alle leidensfähigen Lebewesen ein Recht darauf, dass ihnen kein Leid zufügt wird.
Folglich ergibt sich automatisch für sie die Pflicht, anderen leidensfähigen Lebewesen umgekehrt auch kein Leid zuzufügen.
Eine pathozentrische Umweltethik verpflichtet bei ihrer praktischen Anwendung nicht nur Menschen, sondern auch Tiere gegenüber schmerz- und leidensfähigen Lebewesen.
Dies würde beispielsweise bedeuten, dass Raubtiere in der Natur auf die Rechte ihrer Beutetiere achten müssten – eine Forderung, die sie aufgrund ihres fehlenden Denkvermögens nicht erfüllen könnten.
Nur Menschen sind wegen ihrer kognitiven Fähigkeiten in der Lage, ethische Verhaltensregeln einzuhalten.
Im Gegensatz zu Tieren unterliegen sie nicht vollständig dem Überlebensgesetz „Fressen und gefressen werden“, dem fleischfressende Raubtiere in der Natur unterworfen sind.
Es stellt sich die Frage, wie Menschen in das Verhältnis zwischen Raubtieren und ihren Beutetieren eingreifen sollten, die selbst wiederum Raubtiere gegenüber schwächeren Tieren sein können.
Sollten Menschen beispielsweise einer Katze, die eine Maus gefangen hat, ihr diese Maus wegnehmen – falls diese noch lebt – und an einem sicheren Ort wieder aussetzen?
Oder sollten sie versuchen, die Katze daran zu hindern, eine Maus zu fangen, wenn sie dies beobachten?
Es stellt sich die Frage, ob Tiere, die die Rechte von Menschen oder anderer Tiere beeinträchtigen (indem sie sie zum Beispiel angreifen und verletzen), bestraft werden sollten und wenn ja, wie.
Die Einführung von Tiergerichten mit dem Ziel, Tiere zu verurteilen, die gegen pathozentrische Grundsätze verstoßen haben, wäre nicht zielführend.
Tiere sind keine vernunftbegabte Wesen, die ihre Handlungen bewusst planen und deren Konsequenzen im Voraus bedenken und erkennen können. Daher kann ihnen keine Schuld zugesprochen werden.
Ein weiteres Problem ergibt sich, wenn Tiere Pflanzen schädigen, die die Lebensgrundlage anderer leidensfähiger Tiere sind. Sollten diese Tiere davon abgehalten werden und wenn ja, auf welche Weise?
Diese beispielhaften Fragen verdeutlichen ebenfalls die Schwierigkeit einer konsequenten Anwendung einer pathozentrischen Umweltethik in der Praxis.
Ein Pathozentrismus kann somit nicht absolut verstanden werden, da es aufgrund der Naturgesetze, denen alle Lebewesen unterliegen, unmöglich ist, alles irdische Leben zu berücksichtigen.
Es lässt sich nicht behaupten, dass Menschen grundsätzlich pathozentrische Grundsätze missachten, da eine Gleichbehandlung von Tieren und Menschen häufig anzutreffen ist.
In Industrieländern genießen Tiere teilweise sogar eine bessere Versorgung als Menschen, verglichen mit der Lebenssituation
großer Bevölkerungsteile in Entwicklungsländern oder
einkommensschwacher Menschen in Industrieländern.
Die nachfolgenden Beispiele sollen die These einer Gleichbehandlung von Menschen und Tieren untermauern.
Mit Ausnahme von ausgesetzten oder vernachlässigten Tieren ist die Nahrungsmittel- und Nährstoffversorgung von Haustieren in Industrieländern vergleichbar mit der von dort lebenden Menschen.
Häufig ist sie sogar besser als die Nahrungsmittel- und Nährstoffversorgung vieler Menschen in Entwicklungsländern, sowohl in Bezug auf Menge und Regelmäßigkeit als auch auf Qualität.
Dafür spricht das im Handel erhältliche umfangreiche Angebot an hochwertigem Hunde- und Katzenfutter und der Einkauf von hochwertigem Frischfleisch in Metzgereien von Hunde- und Katzenhaltern für ihre Tiere.
Ohne beispielsweise eine größere Anzahl von Hundebesitzern befragen zu müssen, lässt sich zudem relativ leicht feststellen, dass einige von ihnen regelmäßig für ihre Tiere kochen.
Berücksichtigt man noch das vielfältige Angebot von Nahrungsergänzungsmitteln für Tiere, bestätigt sich auch bei der Nährstoffversorgung eine häufig anzutreffende Gleichbehandlung von Menschen und Tieren.
Die Gleichbehandlung in der Nahrungsmittelversorgung offenbart jedoch paradoxerweise auch eine Ungleichbehandlung von Haustieren und Nutztieren, wie zuvor thematisiert.
Denn beim Einkauf von Frischfleisch oder Fleischprodukten für Haustiere werden die Interessen von leidensfähigen Nutztieren, deren Fleisch die Grundlage dieses Futters ist, vernachlässigt.
Diese Vernachlässigung von Tierrechten lässt sich aus pathozentrischer Perspektive nicht rechtfertigen.
Die medizinische und therapeutische Versorgung vieler Haustiere in Industrieländern ist mit der von dort lebenden Menschen vergleichbar. Vereinzelt ist sie sogar besser als die von einkommensschwächeren Schichten.
Das zeigt sich nicht nur in der flächendeckenden Infrastruktur privater Tierarztpraxen und Tierkliniken, sondern auch im umfangreichen Angebot von therapeutischen Dienstleistungen für Tiere.
So sind insbesondere für Hunde neue therapeutische Berufe entstanden, wie Bewegungstrainer, Ernährungsberater, Fitnesstrainer, Masseure, Physiotherapeuten oder Psychologen.
Allerdings stellt sich die Frage, ob Hunde, die möglichst frei auf dem Land und nicht in einer Stadtwohnung leben, überhaupt Bedarf an einem solchen therapeutischen Angebot hätten.
Aus pathozentrischer Sicht kann selbst die umfangreichste therapeutische Versorgung nicht ändern, dass Haustiere meist nicht nach ihren natürlichen Bedürfnissen leben können.
Dies betrifft ihren natürlichen Bewegungsdrang, ihr Fortpflanzungsverhalten oder ihr Gruppenbedürfnis.
Damit zusammenhängend stellt sich die Frage, ob Haustiere Freude dabei empfinden, nicht in Freiheit leben zu können, oder vielmehr darunter leiden, nach den Vorstellungen ihrer Halter leben zu müssen.
Steht beispielsweise das Halten von Katzen ausschließlich als Hauskatzen, die sich ihr gesamtes Leben nie frei und selbstbestimmt in der Natur bewegen können, im Einklang mit ihrem natürlichen Bedürfnis nach Freiheit und Unabhängigkeit?
Eine Antwort auf diese Frage könnte die Beobachtung von Freigängerkatzen liefern, die sich frei und selbstbestimmt in der Natur aufhalten, beispielsweise auf einem Streifzug durch eine Blumenwiese.
Foto: Ein Langhaar-Kater als Freigänger unter einem Gartenstrauch in der Abendsonne *
„Ein Hund ist ein Angestellter und eine Katze ein freier Mitarbeiter.“
(Hans Fries, 1920–2003, deutscher Filmproduzent und Filmproduktionsleiter) [3]
Die religiöse Verehrung von Kühen in Indien ist ein Beispiel für die Umsetzung einer pathozentrischen Umweltethik, die Tieren gleiche Rechte wie Menschen zuspricht.
Im Hinduismus werden Kühe als heilig verehrt. Sie genießen in Indien die Dankbarkeit der Menschen und symbolisieren Fürsorge und Lebenserhaltung, da sie früher das Überleben der Menschen sicherten.
Kühe lieferten nicht nur Nahrung, sondern auch wertvollen Dünger für Hausbau, Heizung und Ayurveda-Medizin. Darüber hinaus dienten sie als Zugtiere zur Bestellung der Felder und als Transporttiere.
Die Kuh ist in der hinduistischen Religion die Mutter allen Lebens und steht im Zusammenhang mit dem Gott Krishna, der nach der heiligen Schrift Bhagavatapurana als Hirte unter Kuh-Hirten aufgewachsen sein soll.[4]
Aufgrund der religiösen Verehrung von Kühen im Hinduismus existieren in Indien über 5.000 Kuhheime (indisch: Gaushala, Goshala) von unterschiedlicher Qualität, die über 600.000 Kühe beherbergen.[5]
Erste Erwähnungen von Gaushalas finden sich im 12. Jahrhundert – vermutlich gab es bereits im 4. Jahrhundert vor Christus Vorläufer, in denen unproduktive Rinderherden am Leben gelassen und gepflegt wurden.[6]
Heutzutage werden Gaushalas als Wohltätigkeitsprojekte betrieben und beispielsweise durch wohlhabende Indern, den Verkauf von Milch oder durch Spenden von Besuchern finanziert.[6]
In Gaushalas, übersetzt „Heime für Kühe“, werden verlassene, verletzte, kranke oder alte Kühe aus Dankbarkeit der Menschen bis zu ihrem Lebensende gefüttert und gepflegt.[7]
Gaushalas gehören zum kulturellen Erbe Indiens und verdeutlichen die Ehrfurcht und Zuneigung gegenüber Tieren, insbesondere Kühen, in Indien.[7]
Dennoch werden Kühe und Rinder in vielen Gaushalas noch immer unter schlechten Bedingungen gehalten:
Sie stehen bei Hitze, Kälte oder Regen im Freien und leiden unter
Platzmangel und unzureichender Versorgung mit Futter, Wasser, Hygiene,
Medikamenten und Betreuung – fällt ein Tier um, bleibt es liegen, bis es stirbt.[8]
„Es reicht nicht aus, Kühe einfach nur einzusperren und sich selbst auf die Schulter zu klopfen.
Es muss auch sichergestellt werden, dass sie sich wohlfühlen.“
(Maneka Sanjay Gandhi, indische Politikerin, Schriftstellerin, Umwelt- und Tierrechtsaktivistin) [8]
Foto: Wandermönch (Sadhu) mit einer jungen, heiligen Kuh in Indien
Die Kehrseite dieser in Indien gelebten pathozentrischen Umweltethik sollte jedoch nicht unerwähnt bleiben:
Nicht alle Kühe können im Alter in einem Gaushala untergebracht werden. Daher leben in Indien mittlerweile Millionen von Kühen auf der Straße.
Hintergrund dafür ist, dass Kühe mit zunehmendem Alter, wenn sie weniger Milch geben oder keine Grasflächen zur Verfügung stehen, von ihren Haltern ausgesetzt werden – obwohl sie im Hinduismus heilig sind.
Dieser Gegensatz erklärt sich dadurch, dass Gläubige im Hinduismus zwar keine Kühe töten dürfen, jedoch für deren weiteres Schicksal nicht verantwortlich sind, wenn sie die Kühe sich selbst überlassen.[9]
In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, dass nicht alle Kühe in Indien heilig sind, sondern nur reine, einheimische Rassen. Kreuzungen und ausländische Kuharten fallen nicht darunter.
Die herumstreifenden, meist abgemagerten Straßenkühe leben unter erbärmlichen Bedingungen und müssen sich von Abfällen bis hin zu Plastikverpackungen ernähren.
Hier zeigt sich das Dilemma der praktischen Umsetzung eines Pathozentrismus in Indien:
Um Milch zu geben, müssen Kühe jährlich ein Kalb bekommen. Wenn die indische Bevölkerung jedoch nicht auf Milchkonsum verzichten möchte und Kühe heilig sind, resultieren daraus immer mehr lebende Kühe.
Die Verehrung von Kühen ist nur einerseits als Umsetzung einer pathozentrischen Umweltethik interpretierbar.
Andererseits kann die hinduistische Tradition der heiligen Kühe in Indien auch anthropozentrisch interpretiert werden, da bei ihrer Umsetzung das Wohl der Kühe den Interessen der Menschen untergeordnet ist:
Der anthropozentrisch motivierte Milchkonsum führt zu einer stetigen Zunahme des Milchkuhbestandes in Indien, was wiederum durch die Praxis des Aussetzens zu Millionen sich selbst überlassener alter Kühe führt.
Ein weiteres Beispiel für die Gleichbehandlung von Menschen und Tieren sind Tierfriedhöfe, insbesondere Hundefriedhöfe, auf denen verstorbene Haustiere vergleichbar mit Menschen ihre letzte Ruhe finden.
In Berlin haben diese Sonderfformen eines Friedhofes eine lange Tradition: Der älteste Hundefriedhof wurde im Jahr 1900 in Berlin-Wedding angelegt. Er umfasste etwa 300 bis 400 Grabstätten und bestand bis etwa 1950.
Heute gibt es in Berlin beispielsweise Tierfriedhöfe in Steglitz (Bärliner Tierfriedhof), Karlshorst (Tierfriedhof „Im Wiesengrund“), Falkenberg (Tierfriedhof am Tierheim Berlin) oder Tegel (Tierfriedhof am Pfötchenhain).
Der älteste, bis heute bestehende Hundefriedhof im deutschsprachigen Raum befindet sich in einem Fichtenwald in Barsberge in der Nähe der Hansestadt Seehausen (Region Altmark, Sachsen-Anhalt).
Der Hundefriedhof in Barsberge geht zurück auf einen ortsansässigen Jäger, der dort im Jahr 1878 seinen treuen Hund Nimroth aus Dankbarkeit mit einem Grabstein beisetzte.
Mit 7.500 Quadratmetern Fläche für etwa 4.200 Grabstellen befindet sich der größte Tierfriedhof in der Bundesrepublik Deutschland in Teltow (Landkreis Potsdam-Mittelmark).
Der erste und größte Tierfriedhof in den USA, der Hartsdale Pet Cemetery, befindet sich in Westchester County im Bundesstaat New York. Dort fanden auf dem seit 1896 über 80.000 Tierbestattungen statt.
Foto: Der Eingang zum Hartsdale Pet Cemetery Tierfriedhof in Westchester County im Bundesstaat New York
Fast so alt ist der Tierfriedhof „Cimetière des Chiens“ in Asnières-sur-Seine, nordwestlich
von Paris, existiert seit 1899 und dient als Ruhestätte für Hunde, Pferde, Affen, Löwen und Fische.
Auf dem Hundefriedhof wurde beispielsweise der Filmhund Rin Tin Tin, ein Deutscher Schäferhund, bestattet.
Die Bestattung von Tieren auf Friedhöfen ist als Beispiel für einen praktisch umgesetzten Pathozentrismus kein neuzeitliches Phänomen. In Peru wurden etwa 1.000 Jahre alte Tiergrabstätten entdeckt:
Die darin gefundenen Hunde waren in Decken gehüllt und mit Leckerbissen für das Leben nach dem Tod in einem Grab bestattet – entweder alleine oder gemeinsam mit Menschen – vermutlich als Dank für ihre Verdienste um die Familie.[10]
Das älteste, bislang bekannte Hundegrab – ebenfalls gemeinsam mit Menschen – wurde 1914 in einem Steinbruch in Bonn-Oberkassel gefunden und soll aus der Zeit 12.000 bis 11.350 v. Chr. stammen.[11]
Foto:
Der 1980 gegründete Tierfriedhof in Saarbrücken (Saarland,
Bundesrepublik Deutschland) für Bestattungen von Haustieren aller Arten
Eine Missachtung pathozentrischer Grundsätze wird in vielen Bereichen
des Alltags nicht ausreichend berücksichtigt. Ausgewählte Beispiele
sollen dies verdeutlichen:
Tierkämpfe und Tierspiele, wie beispielsweise:
· Stierkämpfe (Corrida) in Spanien, Portugal, Südamerika oder Südfrankreich
· Kuhkämpfe in der Schweiz (Eringer Kühe im Kanton Wallis)
· Hahnenkämpfe unter anderem in Belgien, Frankreich, Italien, Südamerika oder auf den Philippinen
· Rodeos in Brasilien und Nordamerika
Jagd als „Sportart“ oder „aus Vergnügen“, wie die unter anderem in Italien beliebte Jagd von Hobbyjägern auf Zugvögel oder die Trophäenjagd in Ungarn
Tierhandel mit wilden Tieren wie Reptilien und Vögeln
Massentierhaltung von Schweinen, Hühnern und Rindern
Das Aussetzen von Haustieren in freier Natur – insbesondere in der Urlaubszeit [12]
Nicht artgerechte Tierpflege und Tierfütterung
Leidvolle Tiertransporte aufgrund von Tierhandel, Tierschlachtung und Tierzucht
Die Haltung von Tieren in Zoos, bei der sich beispielsweise Affen von den Besuchern hinter der Glasscheibe abwenden und offenbar nicht beobachtet werden möchten.
Die Haltung von Kleintieren wie Meerschweinchen und Kaninchen in kleinen Käfigen, obwohl es sich um soziale Wesen handelt, die die Gesellschaft von Artgenossen benötigen.
Die Verwendung von Tieren wie zum Beispiel Affen, Elefanten oder Löwen für Zirkusaufführungen.
Tierversuche, insbesondere unter Inkaufnahme von Tierquälerei.[13]
Wie zuvor dargestellt, ist die Widersprüchlichkeit im Umgang der Menschheit mit Tieren rational nicht erklärbar und könnte sich mit dem Unterschied zwischen einem Tierrechtler und Tierliebhaber erklären lassen.
Die Annahme, dass Menschen alleine aus emotionalen Gründen zwischen Haustieren und Nutztieren unterscheiden, erweist sich bei genauerer Betrachtung als unhaltbar.
Aus pathozentrischer Sicht lässt sich nicht plausibel begründen, warum typische Nutztiere wie Rinder, Schweine oder Hühner weniger leidensfähig sein sollten als typische Haustiere wie Hunde oder Katzen.
Paradoxerweise werden jedoch mit den beliebtesten Haustieren der Menschen, wie Katzen, Hunden, Kaninchen, Meerschweinchen und Hamstern, Tierversuche durchgeführt.
Ebenso wenig lässt sich rational erklären, warum beispielsweise Hunde oder Katzen nicht üblicherweise auf dem Speiseplan in westlichen Gesellschaften zu finden sind, in denen Tierfleisch gegessen wird.
Dies mag historisch mit kulturellen Gründen zusammenhängen und beruht nicht auf einer pathozentrischen Umweltethik, sondern ist anthropozentrisch motiviert.
So stehen beispielsweise in einigen südostasiatischen Ländern wie Indonesien, Kambodscha, Nordkorea und Vietnam nach wie vor Hundefleisch und Katzenfleisch auf dem menschlichen Speiseplan.
In diesem Zusammenhang sollte man nicht der Täuschung unterliegen, dass in westlichen Industrieländern der Verzehr von Hundefleisch oder Katzenfleisch von jeher tabuisiert wurde oder wird.
In der Bundesrepublik Deutschland wurde das Schlachten von Katzen und Hunden zur Fleischgewinnung erst im Jahre 1986 durch eine Änderung des Fleischbeschaugesetzes verboten.
In der Schweiz hingegen ist lediglich der Handel mit Hundefleisch und Katzenfleisch verboten. Der Verzehr von eigenen Haustieren zum Eigenbedarf ist gestattet (vgl. Lebensmittelgesetz § 2 Abs. 4 lit. a).
Die folgenden Begriffsdefinitionen könnten zur Klärung der Widersprüche menschlichen Verhaltens beitragen:
Tierrechtler setzen sich für die Interessen aller Tiere ein, unabhängig davon, ob Tiere einen emotionalen oder einen anderweitigen Nutzen für sie darstellen.
Tierliebhaber hingegen interessieren sich für die Interessen bestimmter und nicht aller Tiere. Für sie ist es von Bedeutung, ob sie einen emotionalen Bezug zu einem Tier haben oder ob ein anderweitiger Nutzen besteht. Dies kann auch innerhalb einer Tierart gelten (vgl. Tierversuche mit Hunden).
Daraus ergibt sich, dass Tierrechtler pathozentrisch und Tierliebhaber anthropozentrisch motiviert sind.
Die Vermenschlichung (Anthropomorphismus) von Tieren kann mit einer Vernachlässigung ihrer natürlichen Bedürfnisse einhergehen und bis hin zu einer Misshandlung führen.
Werden beispielsweise Haustiere in Tiermode gekleidet oder stundenlangen Pediküren und Haarschnitten bei Hundefriseuren unterzogen, mag dies von ihren Haltern zwar gut gemeint sein.
Es stellt sich jedoch die Frage, ob eine solche Vermenschlichung den natürlichen Bedürfnissen der Tiere gerecht werden kann.
Foto: Verkleideter weißer Terrier am Fasching
Eine ähnliche Problematik der Vermenschlichung zeigt sich, wenn
Haustierhalter von ihren Haustieren erwarten, dass diese wie Menschen
reagieren oder Sachverhalte verstehen, die sie nicht verstehen können.
Werden Tiere wie Menschen behandelt, können zudem natürliche Anzeichen von Angst und Stress übersehen und die Reaktionen der Tiere falsch interpretiert werden.
Haustiere sind jedoch keine Menschen, und Tierhalter können einer Selbsttäuschung unterliegen, wenn sie bei Tieren menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten vermuten.
In der Frage, wer den Pathozentrismus erfunden hat, lässt sich historisch zwischen der westlichen und der östlichen Philosophie unterscheiden.
Die östliche Philosophie, auch Philosophie des Morgenlandes genannt, bezieht sich auf den Kulturraum Asiens (speziell China, Indien und Japan), während sich die westliche Philosophie, auch Philosophie des Abendlandes genannt, auf Europa und die Vereinigten Staaten von Amerika (USA) bezieht.
Der antike griechische Philosoph Platon (428 – 347 v. Chr.) vertrat eine Seelenwanderungslehre, nach der Menschen, die sich von der Vernunft abwenden, im nächsten Leben als Tier geboren werden.[14]
Diese Lehre legt eine vegetarische Ernährung nahe, da Tiere die Reinkarnationen von Menschen sein könnten. Der Verzehr von Tierfleisch könnte somit den Verzehr der eigenen Vorfahren bedeuten.
Vorläufer des Pathozentrismus lassen sich bereits in der griechischen und römischen Antike finden.
Der griechische Philosoph Theophrast (Theophrastos von Eresos), ein Schüler Aristoteles’, und der römische Philosoph Plutarch sprachen sich zwar nicht für eigenständige Tierrechte aus, äußerten sich jedoch bereits kritisch gegenüber der damaligen Behandlung von Tieren.
Theophrast (371–287 v. Chr.) räumte Tieren Schmerzempfindlichkeit ein und sprach sich für eine rücksichtsvolle Behandlung von Tieren sowie gegen religiöse Tieropfer aus, die er als grausam und sinnlos betrachtete.[15]
Plutarch (45–125 n. Chr.) sprach sich gegen religiöse Tieropfer und den Verzehr von Tierfleisch aus. Seiner Ansicht nach seien Tiere ebenso schmerzempfindlich wie Menschen, und eine pflanzliche Ernährung für Menschen sei problemlos möglich.[16]
Darüber hinaus vertrat Plutarch die Ansicht, dass Tiere einen Eigenwert besäßen und nicht ausschließlich zum Nutzen der Menschen existierten.[16]
Folglich sollten Haustiere und Nutztiere von den Menschen Fürsorge erfahren, und Wildtiere sollten geschont werden, sofern sie keine Bedrohung oder Schädigung für den Menschen darstellten.[16]
Plutarch sah einen Zusammenhang zwischen Rohheit gegenüber Tieren und Rohheit gegenüber Menschen.[16] Dieses anthropozentrische Argument wurde weit nach ihm auch Immanuel Kant im 18. Jahrhundert vertreten.
Der Jainismus, eine vor etwa 2.500 Jahren in Indien entstandene Religion, schreibt seinen Anhängern eine strikt vegetarische Lebensweise vor und zählt heute rund vier Millionen Anhänger, vorwiegend in Westindien.[17]
Mahavira, ein Zeitgenosse von Buddha, der die Weltreligion des Buddhismus begründete, war die führende Gestalt und der wesentliche Begründer des Jainismus.[17]
Anhänger des Jainismus glauben, dass jeder Organismus, vom Einzeller bis zum Menschen, eine ewige Seele besitzt – daher sollte jede Schädigung jeglicher Lebewesen, ganz gleich wie gering, vermieden werden.[17]
Sowohl der Jainismus als auch der Buddhismus lehnen Tieropfer ab, und die hinduistische Praxis des Vegetarismus könnte ihren Ursprung im Jainismus haben.[17]
Daher ist es den Gläubigen dieser Religion, den sogenannten Jains, nicht gestattet, Landwirtschaft als Beruf auszuüben, da dies Kleinstlebewesen im Boden schaden könnte.[17]
Im Sinne eines konsequenten vegetarischen Lebensstils vermeiden Jains traditionell das Essen nach Sonnenuntergang, da sie dabei unbeabsichtigt Kleinstlebewesen wie Insekten verspeisen könnten.[18]
Darüber hinaus trinken sie nur abgekochtes und gefiltertes Wasser, um den Verzehr von winzigen, im Wasser lebenden Organismen zu minimieren.[19]
Fünf Dinge sind für alle Jains absolut verboten: Fleisch (einschließlich Fleischprodukte wie Gelatine), Fisch, Eier, Alkohol und Honig.[20]
Der Verzehr von Honig ist untersagt, da er die Körpersekrete von Bienen enthält, und der Verzehr von Alkohol ist untersagt, da der Prozess der Gärung und Destillation lebende Organismen vermehrt und zerstört.[19]
Ferner meiden Jains Nahrungsmittel, deren Produktion
Pflanzen oder Pilze durch Ausreißen oder Abschneiden tötet,
Keime zukünftigen Lebens zerstört oder
Kleinlebewesen schädigt, die in einer Pflanze leben.[17]
Zu diesen Nahrungsmitteln zählen Früchte und Gemüse mit kleinen Samen, wie
Feigen, Auberginen und Tomaten, Wurzelgemüse, wie Karotten, Kartoffeln,
Knoblauch und Zwiebeln, sowie Blütengemüse wie Blumenkohl.[17]
Die Erlaubnis des Verzehrs von Milch und Milchprodukten im Jainismus mag darauf zurückzuführen sein, dass der Bedarf an den darin enthaltenen Nährstoffen in früheren Zeiten hoch war und weil Kühe (zumindest theoretisch) freundlich behandelt wurden.[19]
Einige Jains in Nordamerika meiden jedoch Milch und Milchprodukte, da sie die Milchproduktion mit Gewalt und dem Töten von nicht mehr milchgebenden Kühen in Verbindung bringen.[19]
Das Ahimsa-Symbol
Das zentrale Prinzip des Jainismus ist Ahimsa, übersetzt mit Nichtverletzung oder Gewaltlosigkeit – eine zutreffendere Übersetzung wäre jedoch „nicht schaden“.[20]
Ahimsa ist nicht nur eine der wichtigsten Verhaltensregeln im Jainismus, sondern auch im Buddhismus, Hinduismus und Yoga. Es lässt sich in folgender Aussage zusammenfassen:
„Verletze, missbrauche, unterdrücke, versklave, beleidige, quäle, foltere oder töte keine anderen Lebewesen.“ [20]
Ein daraus folgender Gewaltverzicht berücksichtigt, dass Schaden an anderen Lebewesen nicht nur körperlicher, sondern auch geistiger und verbaler Natur sein kann.[20]
Jains verzichten auf jegliche tierischen Bestandteile in ihrer Kleidung und dürfen daher einen Jain-Tempel nicht mit Kleidung aus tierischen Bestandteilen betreten.[20]
In Indien meiden viele Jains Geschäfte, in denen Fleisch, Fisch oder Eier verkauft werden, und bezahlen die Besitzer von Schlachthäusern dafür, an bestimmten Feiertagen keine Tiere zu schlachten.[20]
Jains errichten Tierheime und Krankenhäuser für Kühe, Vögel und andere Tiere. Sie lassen die Vögel frei, wenn sie sich erholt haben, da sie nicht daran glauben, ein Recht darauf zu haben, sie einzusperren.[20] Aus demselben Grund halten heutige Jains im Allgemeinen keine Haustiere.[20]
Die Ehrfurcht von Jain-Mönchen und Jain-Nonnen vor allen Lebensformen ist so groß, dass sie keine Insekten töten, die sie stechen.[18]
Wandernde Mönche tragen sogar Masken, um kein Insekt versehentlich einzuatmen, und fegen beim Gehen den Boden vor sich mit einem Besen, um nicht versehentlich auf ein Lebewesen zu treten.[20]
Mahatma Gandhi (1869–1948), der geistige und politische Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung, soll stark durch den Jainismus geprägt worden sein.[18]
Jeremy Bentham
Mit seinen Überlegungen zu einer Tierethik, also dem ethischen Umgang von Menschen mit Tieren und deren Rechten, hat der englische Philosoph Jeremy Bentham den Pathozentrismus im 18. Jh. in der westlichen Philosophie begründet.
Jeremy Bentham (1748–1832) war nicht nur Philosoph, sondern auch Sozialreformer und Begründer des Utilitarismus (von lateinisch utilis = nützlich), einer normativen Ethik.
Im Utilitarismus ist eine Handlung nach ihrer Nützlichkeit zu beurteilen und dann sittlich geboten, wenn ihre Folgen für das Glück aller Betroffenen optimal sind.[21]
Jeremy Bentham forderte in der Beziehung von Menschen und Tieren erstmals eigenständige Tierrechte.
Er wies darauf hin, dass nicht nur Menschen leidensfähig sind, sondern auch Tiere und stellte damit die bislang vorherrschende Sonderstellung der Menschen in der anthropozentrischen Umweltethik in Frage.
Was war für Jeremy Bentham der Grund, Tiere nicht schlecht zu behandeln? Eine Antwort darauf gab er in seinem Werk „An Introduction to the Principles of Morals and Legislation“ aus dem Jahr 1789.
Dem Gleichheitsgrundsatz folgend, dass Gleiches auch gleich zu behandeln ist, war die Ähnlichkeit des Schmerzempfindens von Tieren und Menschen für Jeremy Bentham der Grund, dass eine Ausweitung von Tierrechten stattfinden sollte.[22]
Andere, nichtmenschliche Lebewesen sollten nicht danach behandelt werden, ob sie denken oder sprechen können, sondern danach, ob sie Schmerzen und Leid empfinden können.[22]
Denn wenn alleine Vernunft und Sprachfähigkeit maßgebliche Kriterien für eigenständige Rechte von Lebewesen sind, dann müssten auch einige Menschen wie Tiere behandelt werden.[22]
Dies gilt nicht nur für demente Menschen, sondern auch für Säuglinge, unabhängig von ihrem Alter, denn ausgewachsene Pferde oder Hunde sind – so Jeremy Bentham – ungleich vernünftiger und mitteilsamer.[22]
Für die Einschätzung der Rechte leidensfähiger Lebewesen lautete für Jeremy Bentham die Frage also nicht „Können sie denken?“ oder „Können sie sprechen?“, sondern „Können sie leiden?“.[22]
Dies bedeutet nicht, dass leidensfähige Tiere deshalb gleiche Rechte wie Menschen haben sollen:
Die Berücksichtigung der Interessen von Tieren bedeutet nach Jeremy Benthams Pathozentrik nur, dass es keinen Grund gibt, Tiere zu quälen, und nicht, dass sie nicht getötet werden dürfen, wenn sie Menschen angreifen oder auf dem Speiseplan der Menschen stehen.[23]
Dass er sich nicht für ein Tötungsverbot von Tieren aussprach, begründete Jeremy Bentham wie folgt:
Ein schneller Tod, den Tiere durch Menschen erleiden, könnte weniger schmerzhaft und mit weniger Leid verbunden sein als der Tod, den Tiere im unvermeidlichen Lauf der Natur erwarten würden.[23]
So können Tiere in freier Natur beispielsweise einem Angriff von Raubtieren ausgesetzt sein oder anderen Gefahren wie Krankheiten, Verletzungen, Naturkatastrophen, Erfrieren, Verhungern und Verdursten.
Als Folge von Jeremy Benthams Tierethik wurde in Großbritannien 1822 das erste Tierschutzgesetz verabschiedet, das Tierquälerei von Pferden, Rindern und Schafen unter Strafe stellte.[24]
Darüber hinaus entstand 1824 in Großbritannien die erste Tierschutzorganisation der Welt, die Königliche Gesellschaft zur Verhütung von Grausamkeiten an Tieren (englisch: Royal Society for the Prevention of Cruelty to Animals, abgekürzt: RSPCA).
Um eine Antwort auf die Frage zu finden, warum Jeremy Bentham in seinem pathozentrischen Ansatz noch keine Tierversuche thematisiert hat, bietet sich ein historischer Rückblick an:
Die ersten belegten Tierversuche wurden bereits im antiken Griechenland im 5. Jahrhundert v. Chr. durchgeführt – allerdings in einem verglichen zu heute marginalen Umfang und zu Zwecken der allgemeinen Erforschung der Anatomie.[25]
Bis zum 18. Jh. gab es noch keine massenhaften Tierversuche so wie heute. Dies könnte der Grund dafür gewesen sein, dass sich Jeremy Bentham in seinem Werk von 1789 nicht zu Tierversuchen äußerte.
Erst im 19. Jh. etablierten sich Tierversuche in dem heute verbreiteten industriellen Ausmaß mit Vertretern wie Georg Meissner und Robert Koch.[26]
Obwohl sich Jeremy Bentham gegen Tierquälerei aussprach, kann nur darüber spekuliert werden, ob er massenhafte Tierversuche, wie sie heute üblich sind, für ethisch akzeptabel gehalten hätte.
Denn es ist nicht bekannt, ob Jeremy Bentham, der Begründer des Utilitarismus (vgl. zuvor), Tierversuche als ethisch gerechtfertigt hätte erachten können.
Vermutlich ging man auch im 18. Jh. fälschlicherweise davon aus, dass die Ergebnisse von Tierversuchen auf Menschen übertragbar seien und einen direkten Nutzen für die Mehrheit der Menschen hätten.
Dieses utilitaristische Argument hätte die mit Tierversuchen verbundene Qual der Tiere entkräftet.
Was die Probleme der industriellen Nutztierhaltung und den Ende der 1960er Jahre etablierten Begriff der Massentierhaltung in der Veterinärmedizin betrifft, gab es diese zu Lebzeiten von Jeremy Bentham noch nicht.[27][28]
Welchen Ansatz einer pathozentrischen Umweltethik also Jeremy Bentham bezüglich der Massentierhaltung vertreten hätte, darüber kann nur spekuliert werden.
Festzuhalten ist, dass der utilitaristische Ansatz von Jeremy Bentham eine richtungsweisende Grundlage für die weitere Entwicklung einer modernen Tierrechtstheorie geschaffen hat.
Im Folgenden werden die Ansätze und Positionen von zwei modernen Vertretern in der Tierrechtstheorie und Tierethik in der westlichen Philosophie vorgestellt: Peter Singer und Tom Regan.
Beide Philosophen sprechen sich letztlich gegen eine Trennung zwischen einer Ethik für Menschen und einer Ethik für Tiere aus.
Peter Singer
Ein moderner Vertreter der Tierrechte und Kritiker von Tierversuchen ist der australische Philosoph und Tierethiker Peter Singer.
Sein 1975 veröffentlichtes Buch „Die Befreiung der Tiere“ (englischer Originaltitel: Animal Liberation) entwickelte sich zu einem Klassiker der modernen Tierrechtsbewegung.
Darin vertritt Peter Singer die Position von Jeremy Benthams Tierethik, wonach für die Begründung von Tierrechten nicht die Fähigkeit zu denken und zu sprechen maßgeblich ist, sondern die Fähigkeit zu leiden.[29]
Peter Singer liefert jedoch, ähnlich wie Jeremy Bentham vor ihm,
keine Argumente für folgende Annahmen:
Alle Tiere sind schmerzfähig – sowohl wirbellose Tiere als auch Wirbeltiere mit Zentralnervensystem.
Das Schmerzempfinden der Tiere kann subjektiv anhand menschlicher Schmerzerfahrung beurteilt werden.
Peter Singer begründet eine Tierethik, die Tierrechte berücksichtigt, durch ein Argument der Vernunft und den Hinweis auf das Gleichheitsprinzip:
Gehen Menschen davon aus, dass auch andere Menschen Schmerzen empfinden können, ist dies ebenso vernünftig wie die Annahme, dass Hunde, Katzen oder ähnlich hoch entwickelte Tiere Schmerzen empfinden können.[30]
Peter Singer weist darauf hin, dass höher entwickelte Säugetiere wie Delfine, Menschenaffen und Wale sowie Vögel offensichtlich ein Nervensystem besitzen müssen, das dem der Menschen sehr ähnlich ist:
Denn auch diese Tiere stoßen bei Schmerzen Laute aus, zucken oder zeigen ein Fluchtverhalten – so wie es auch Menschen tun.[31]
Daraus folgert Peter Singer, dass alle Lebewesen mit der Fähigkeit, Schmerzen zu empfinden, Interessen haben, die berücksichtigt werden müssen.[32]
Diesen pathozentrischen Ansatz präzisiert er in seinem Werk „Praktische Ethik“:
„Wenn ein Wesen leidet, kann es keine moralische Rechtfertigung dafür geben, dieses Leiden nicht in Betracht zu ziehen. Unabhängig von der Art des Wesens verlangt der Gleichheitsgrundsatz, dass das Leiden mit dem gleichen Leiden – soweit vergleichbar – eines jeden anderen Wesens gleichgesetzt wird. Wenn ein Wesen nicht in der Lage ist, zu leiden oder Freude oder Glück zu empfinden, gibt es nichts zu berücksichtigen. Deshalb ist die Grenze der Empfindungsfähigkeit die einzige vertretbare Grenze moralischer Berücksichtigung der Interessen anderer.“ [33]
Genauso wenig, wie es intelligentere Menschen berechtige, für ihre
Zwecke weniger intelligente Menschen auszunutzen, berechtigt es
Menschen, nicht menschliche Wesen mit geringerer Intelligenz auszunutzen.[34]
Werden Tieren aufgrund ihrer Nicht-Menschlichkeit weniger Rechte zugesprochen, so liegt laut Peter Singer ein sogenannter Speziesismus vor, also eine Diskriminierung durch die Bevorzugung der eigenen Spezies, die nicht zu begründen ist.[34]
Der Begriff Speziesismus wurde bereits 1970 vom britischen Psychologen und Tierrechtler Richard Ryder verwendet, um den Egoismus der menschlichen Spezies auszudrücken, der aus einer anthropozentrischen Ethik resultiert und andere Spezies von der Moral ausschließt.[35]
Der Speziesismus ist von Bedeutung bei der Frage, warum menschliche Lebewesen wie Babys oder Komapatienten gegenüber höheren Säugetieren eine Sonderstellung einnehmen sollten.
Denn ihnen sind beispielsweise ausgewachsene Gorillas in Bezug auf geistige Fähigkeiten überlegen.
Im Sinne des von Peter Singer kritisierten Speziesismus kann somit die durchschnittlich höhere Intelligenz von Menschen gegenüber anderen Lebewesen kein Kriterium für eine menschliche Sonderstellung sein.
Einzig die Frage, ob Lebewesen leidensfähig sind und Schmerzen empfinden, kann als Kriterium dienen, ob Interessen von Lebewesen zu berücksichtigen sind oder nicht.
Peter Singer lehnt Tierversuche nicht generell ab. Seine Kritik setzt bei der Frage an, welchen direkten Nutzen sie für Menschen haben, und ob alternative Methoden, wie Zellkulturen, sie ersetzen können.[36][37]
Denn bei Tierversuchen, die der reinen Forschung dienen, bleiben die Interessen der Tiere unberücksichtigt, und das erzeugte Leid steht in keinem ethisch tragbaren Verhältnis zum Nutzen der Experimente.[38]
Man kann Peter Singer als einen modernen Vertreter des Pathozentrismus bezeichnen, weil er im Gegensatz zu Jeremy Bentham die ethische Rechtfertigung von Tierversuchen hinterfragt.
Darüber hinaus hat Peter Singer neue Entwicklungen im 20. Jahrhundert aufgegriffen, die gravierenden Einfluss auf Tierrechte haben.
So fordert er die Abschaffung der industriellen Nutztierhaltung und spricht sich für eine vegetarische oder vegane Lebensweise als Unterstützung des Protests gegen die Massentierhaltung aus.[39][40]
Tom Regan
Tom Regan, ein US-amerikanischer Philosoph, kann als weiterer moderner Vertreter einer pathozentrischen Tierrechtstheorie genannt werden.
Ähnlich wie Peter Singer verweist er auf die allgemein akzeptierte Wertevorstellung, dass Menschen mit unterdurchschnittlicher Intelligenz oder Vernunft keinen geringeren Wert haben sollen als Menschen mit durchschnittlicher Intelligenz oder Vernunft.[41]
Dieser Zusammenhang, so Tom Regan, muss auch für Tiere gelten, da sich aufgrund ihrer überwiegend geringeren kognitiven Fähigkeiten ebenfalls kein geringerer Wert im Vergleich zu Menschen begründen lässt.[42]
Während seiner aktiven Lehrzeit als Professor für Philosophie veröffentlichte Tom Regan im Jahr 1983 sein Buch „The Case for Animal Rights“, das als ein Klassiker der Tierrechtsbewegung und Tierethik gilt.
Das Buch enthält eine Kritik an Nutztierhaltung, Tierversuchen, Massentierhaltung und Tiertransporten, die über den pathozentrischen Ansatz von Peter Singer hinausgeht.
Nach der Ansicht von Tom Regan lassen sich weitreichende Tierrechte, die jegliche Nutzung von Tieren für menschliche Zwecke ausschließen, wie folgt begründen:
Eine pathozentrische Umweltethik, die in der Tierhaltung und Tiernutzung lediglich das Ziel einer Minimierung der Schmerzen und des Leides von Tieren anstrebt, kann nicht der Würde von Tieren gerecht werden.[42]
Sie würde, einfach ausgedrückt, die Regel „Schmerz ist Schmerz, wo immer er auftritt“ gänzlich vernachlässigen und ein falsches Wertesystem etablieren.[42]
Tom Regan widerspricht der Position des Utilitarismus, nach der Menschen ethisch das Recht besitzen, Tiere zu töten, wenn dadurch der Gesamtnutzen aller Beteiligten maximiert wird.[43]
Sein pathozentrischer Ansatz spricht allen empfindungsfähigen Lebewesen einen inneren Wert und damit innewohnende Rechte zu – unabhängig von ihren Fähigkeiten oder ihrem Nutzen für die Menschen.
In Bezug auf Tierversuche widerspricht Tom Regan der relativierenden Position von Peter Singer und begründete seinen Ansatz mit den folgenden zwei Argumenten:
„Der gute Zweck heiligt nicht das schlechte Mittel.“ [44]
„Labortiere sind nicht unsere Vorkoster, wir sind nicht ihre Könige.“ [44]
Solange der Wert von Tieren lediglich daran gemessen wird, wie nützlich sie für andere sind, werden sie, so Tom Regan, respektlos behandelt und ihre Rechte verletzt.[44]
Demnach spielt es bei Tierversuchen keine Rolle, ob sie aus unnötigen oder unsinnigen Zwecken erfolgen oder ob sie versprechen, einen wirklichen Nutzen für die Menschheit zu erbringen.[44]
Genauso wie es keine Rechtfertigung für das Verletzen oder Töten eines Menschen zu Forschungszwecken gibt, gibt es für Tom Regan auch keine Rechtfertigung für das Verletzen oder Töten einer „niederen Kreatur“ wie einer Laborratte.[44]
Wenn es um die Verwendung von Tieren in der Wissenschaft geht, ist es nach Ansicht von Tom Regan am besten, auf sie zu verzichten.[44]
Tom Regans pathozentrischen Ansatz betrachtet die Einstufung von Tieren als erneuerbare Ressourcen für den Menschen als ungerechtfertigt.[44]
Aus diesem Grund befürwortete er auch die Abschaffung der Nutztierhaltung, der Jagd und der Fallenstellerei aus kommerziellen oder sportlichen Gründen.[44]
Das Konzept der Fünf Freiheiten des britischen FAWC (Farm Animal Welfare Committee) kann Bewertungskriterien für das Tierwohl in erster Linie in der Landwirtschaft liefern und zur Umsetzung von Tierrechten beitragen.
Dieses Tierschutzkonzept wurde Anfang der 1990er Jahre von John Webster, einem englischen Tierschützer, Tierarzt und Professor für Tierhaltung an der Universität Bristol (Großbritannien), entwickelt.
Die Fünf Freiheiten umfassen folgende ideale Voraussetzungen für das Tierwohl:
1. Freiheit von Durst, Hunger und Mangelernährung: Freier Zugang zu frischem Wasser und einer Nahrung, die die Gesundheit und Vitalität der Tiere vollständig erhält.
2. Freiheit von Unbehagen: Bereitstellung einer angenehmen Ruhezone, einer geeigneten Umgebung und der Möglichkeit für die Tiere, sich unterstellen zu können, beispielsweise bei Unwettern oder in der Nacht.
3. Freiheit von Schmerz, Verletzung und Krankheit: Vermeidung von Verletzungen durch bauliche Maßnahmen und tierärztliche Untersuchungen zur Prävention, Diagnose und Behandlung von Krankheiten.
4. Freiheit von Angst und Leiden: Sicherstellung angstfreier Bedingungen und eines Umgangs mit den Tieren, der psychisches Leid vermeidet.
5. Freiheit zum Ausleben normaler Verhaltensmuster: Gewährleistung von Freiheitsräumen in Gesellschaft von Artgenossen, sofern es sich nicht um Tiere handelt, die außerhalb der Paarungszeit Einzelgänger sind.[45]
Die Fünf Freiheiten beinhalten somit insgesamt zehn allgemeine Bedingungen zur Analyse des Tierwohls:
Durst, Hunger, Mangelernährung, Unbehagen, Schmerz, Verletzung, Krankheit, Ausleben normaler Verhaltensmuster, Angst und psychisches Leiden.
Anhand dieser Bedingungen kann versucht werden, das Tierwohl in konkreten Fällen zu analysieren.
Es bleibt jedoch Aufgabe der pathozentrischen Tierethik, zu erläutern, wie diese Bedingungen jeweils zu gestalten sind, damit sie aus ethischer Perspektive als akzeptabel gelten können.
Am Konzept der Fünf Freiheiten kann kritisiert werden, dass in den ersten vier Freiheiten von fehlendem Tierwohl ausgegangen wird und damit von negativen Zuständen, in denen sich Tiere befinden.
Ausgangspunkt der ersten vier Freiheiten könnte ebenso gut ein bestehendes Tierwohl und damit genau zu bezeichnende positive Zustände sein, in denen sich Tiere befinden sollten.
Mögliche Zustandsbeschreibungen könnten beispielsweise auch Begriffe wie Sattheit, vollwertige Ernährung, Freude, Gesundheit, Unversehrtheit, Vergnügen, Wohlbefinden oder Zufriedenheit sein.
Die Anwendung der Fünf Freiheiten als Bewertungskriterien für das Tierwohl in Tierversuchslaboren hätte unweigerlich ein Verbot von Tierversuchen zur Folge.
Denn Tierversuchslabore können lediglich die erste Freiheit gewährleisten und die Tiere vor Durst, Hunger und Mangelernährung bewahren. Tierversuche sind nicht mit den anderen vier Freiheiten vereinbar.
Das Konzept der Fünf Freiheiten ist mit der Haltung von Haustieren in folgenden Situationen nicht vereinbar:
Katzen leben als Wohnungskatzen statt als Freigänger, obwohl sie als ein Inbegriff von Freiheit gelten.
Hunde, Kaninchen und Meerschweinchen leben als Einzeltiere, obwohl sie normalerweise in Rudeln leben.
Vögel leben in Käfigen, die ihnen das freie Fliegen unmöglich machen.
Hamster leben in Käfigen, obwohl sie normalerweise in unterirdischen Tunnelsystemen leben.
Die Fünf Freiheiten des Farm Animal Welfare Committee (FAWC) entwickelten sich im Laufe der Zeit zu einem Standard für die Beurteilung des Tierwohls in der Landwirtschaft.
Sie werden von Tierschutzverbänden herangezogen und dienen als Grundlage staatlicher Tierschutzgesetze.
» Hinweise zum Zitieren dieser Internetseite in wissenschaftlichen Arbeiten
Wenn Ihnen diese Seite gefällt, können Sie gerne dieses Projekt » mit PayPal unterstützen.
Sie können die Seite auch gerne in sozialen Netzwerken oder anderweitig teilen. Vielen Dank!
↑ Nach oben ↑
Literaturangaben und Anmerkungen:
[1] Teutsch, G.M. (1985), Lexikon der Umweltethik, Düsseldorf, S. 83.
[2] Ebenda, S. 84.
[3] Fries, Hans: Zitat, in: Treffpunkt Medienberatung [www.fvgnet.de], https://www.fvgnet.de/produktionsleiter-filmproduzent/#zitate, abgerufen am 21.04.2025.
[4] Meyer-Glitza, Patrick (2019): Rinderhaltung ohne Schlachtung als Agrar-Care-System – Fallbeispiele aus Europa und Indien, Dissertation, Lebenswissenschaftliche Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, S. 22.
[5] Khanna, Sujoy/Gandhi, Maneka Sanjay/Awasthi, Meenakshi (2017): Gaushala, People for Animals, New Delhi, S. 1.
[6] Lodrick, Deryck. O. (1981): Sacred Cows, Sacred Places – Origins and Survivals of Animal Homes in India, University of California Press, Berkeley, USA, S. 59f.
[7] Dr. Khanna, Sujoy/Gandhi, Maneka Sanjay/Awasthi, Meenakshi (2017): Gaushala, People for Animals, New Delhi, S. 1.
[8] Ebenda, Vorwort von Maneka Sanjay Gandhi.
[9] Infobrief März 2013 der Tierschutz-Organisation Animals‘ Angels, S. 6.
[10] Wylde, Michael (2017): The Inca dogs and their ancestors, Dissertation, University of Florida, S. 72/73.
Übersetzung und Zusammenfassung des Textes: Dass die Hunde vermutlich
als Dank für ihre Verdienste um die Familie begraben wurden, belegen
etwa tausend Jahre alte Grab-Funde in Peru
südöstlich von Lima in der Nähe der Hafenstadt Ilo. Die Friedhöfe sollen
vom Volk der Chiribaya stammen, das von 900 bis 1350 nach Christus im
Osmore-Tal lebte. Dort haben Forscher in Gräbern und Grabstätten 43
Hunde entdeckt, die damals in Peru vermutlich als Wachhunde zum Schutz von Lama-Herden
und der sie begleitenden Kinder vor Raubtieren eingesetzt wurden. Die
Hunde ähnelten kleineren Golden Retriever. Ihre Mumifizierung, Einhüllung in Decken,
die Beigaben von Futter-Leckerlis sowie der Umstand, dass die Hunde
teilweise eigene Gräber hatten, lässt darauf schließen, dass sie nicht
geopfert, sondern für ihre familiären Dienste geehrt worden sind.
[11] Baales, Michael/Street, Martin (1998): Late Palaeolithic Backed Point assemblages in the northern Rhineland: current research and changing views, in: Notae Praehistoricae. 18, S. 77–92.
[12] Laut Schätzungen werden jährlich etwa 300.000 Tiere in deutschen Tierheimen aufgenommen, die meisten in den Sommermonaten wie einschlägige Pressemeldungen jedes Jahr zeigen. Dabei handelt es sich überwiegend um Kleintiere wie Hunde, Katzen, Kaninchen und Meerschweinchen.
[13] Vgl. hierzu die Webadressen zum » tierfreundlichen Einkaufen von Produkten und Kosmetik, hergestellt ohne Tierversuche.
[14] Margreiter, Reinhard (2016): Die Tiere in der antiken Philosophie, erschienen in: Ringvorlesung „Human-Animal Studies – Das Mensch-Tier-Verhältnis im Fokus wissenschaftlicher Forschung“ (WS 2016/2017), Universität Innsbruck, S. 7.
[15] Ebenda, S. 12/13.
[16] Ebenda, S. 13/14.
Plutarch beschäftigte sich in seiner „Moralia“, einer
Sammlung von etwa 70 Abhandlungen zu verschiedenen Themen, in folgenden
drei Abhandlungen mit Tieren:
De esu carnium (Über das Fleischessen)
De sollertia animalium (Über die Klugheit der Tiere)
Bruta animalia ratione uti (Vernunftgebrauch bei wilden Tieren)
In seinem Werk „De esu carnium“ wandte er sich mit sehr deutlichen Worten gegen das Essen von Fleisch:
„Du fragst mich, aus welchem Grunde wohl Pythagoras sich des Fleischessens enthalten habe: ich für meine Person aber wundere mich, welche Leidenschaft, welche Stimmung der Seele oder welcher Grund zuerst den Menschen mag verleitet haben, Blut mit dem Munde zu berühren und das Fleisch eines todten Thieres an seine Lippen zu bringen; wie er nur darauf verfallen ist, Leichname und Schattenbilder als Zusatz oder als Speise auf den Tisch zu setzen, und Glieder, die kurz vorher noch brüllten, schrieen, sich bewegten und sahen, zu verzehren; wie das Auge es nur aushielt, das arme Thier schlachten, abziehen und zerstücken zu sehen, wie die Nase den üblen Geruch davon vertragen konnte, und wie es den Gaumen nicht vor der Verunreinigung ekelte, fremde Geschwüre zu berührenden Eiter von tödtlichen Wunden anzunehmen.” (Übersetzung von Plutarchus, 1797, Moralia, S. 488)
[17] Sen, Colleen Taylor: Jainism and Food, in: Thompson, Paul B./Kaplan, David M. (2014): Encyclopedia of Food and Agricultural Ethics, Springer Science+Business Media Dordrecht, S. 1302.
[18] Ebenda, S. 1297.
[19] Ebenda, S. 1300.
[20] Ebenda, S. 1299.
[21] Höffe, Otfried (1992): Lexikon der Ethik, 4. Auflage, Verlag C.H. Beck, München, S. 285.
[22] Bentham, Jeremy: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, in: The Collected Works of Jeremy Bentham (1996), Hrsg. J. H. Burns/H.L.A. Hart, Oxford, S. 282f.
Dort lautet das Original-Zitat von Jeremy Bentham, das bis heute in der Tierethik und Tierrechtsbewegung Verwendung findet: „The question is not, can they reason?, nor can they talk? but, can they suffer?“
[23] Bennett, Jonathan (2017): An Introduction to the Principles of Morals and Legislation – Jeremy Bentham, Chapter 17, Anmerkung 1, S. 143.
[24] Das erste Tierschutzgesetz in Großbritannien gegen
die grausame Tierquälerei von Rindern, Pferden und Schafen hatte den
Namen „Cruel Treatment of Cattle Act 1822“. Es wurde auch unter dem
Namen „Martins Act“ in Großbritannien bekannt, benannt nach dem
irischen Oberst, Politiker und Tierschutz-Aktivisten Richard Martin
(1754–1834).
Das vermutlich erste Tierschutzgesetz in der westlichen Welt wurde 1635 im
Parlament von Irland zum Schutz von Pferden und Schafen beschlossen. Es hatte den Namen „An Act against Plowing by the Tayle,
and pulling the Wooll off living Sheep“.
[25] Aschoff, Ludwig: Kurze Übersichtstabelle zur Geschichte der Medizin, neu durchgesehen und erweitert von Ernst Schwalbe, in: Schwalbe, Ernst (1909): Vorlesungen über Geschichte der Medizin, 2. Auflage, Verlag Gustav Fischer, Jena, S. 168.
[26] Keil, Gundolf (2021): Robert Koch (1843–1910) – Ein Essay, in: Medizinhistorische Mitteilungen. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte und Fachprosaforschung. Band 36/37, S. 73.
[27] Fritzsche, Karl (1970): Massentierhaltung und Veterinärmedizin, in: Zentralblatt für Veterinärmedizin, Reihe B, Band 17, Nr. 1, 13. Mai 2010, S. 12–22.
[28] Der Begriff „Massentierhaltung“ bezeichnet die massenhafte und industriell-technisierte Haltung von Tieren – meistens nur von einer einzigen Tierart – in beengten Käfigen, Ställen oder Hallen unter belastenden und meist nicht artgerechten Bedingungen für die Tiere. Alternative Begriffe sind auch intensive Tierhaltung, Intensivhaltung oder Intensivtierhaltung.
[29] Singer, Peter (1996): Animal Liberation – Die Befreiung der Tiere, zweite Auflage, Rowohlt Verlag, Hamburg, S. 35f.
[30] Singer, Peter: Alle Tiere sind gleich, in: Krebs, Angelika (2016): Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion. 8. Auflage, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, S. 19–20.
[31] Singer, Peter (1996): Animal Liberation – Die Befreiung der Tiere, zweite Auflage, Rowohlt Verlag, Hamburg, S. 46.
[32] Ebenda, S. 54.
[33] Singer, Peter (2011): Praktische Ethik, Dritte Auflage, Cambridge University Press, Cambridge (England), S. 50.
[34] Singer, Peter: Alle Tiere sind gleich, in: Krebs, Angelika (2016): Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion. 8. Auflage, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, S. 19–20.
[35] Ryder, Richard D. (1970): Speciesism Again: The original leaflet, in: Critical Society. 1. Jahrgang, Nr. 2, 2010, S. 1–2.
[36] Singer, Peter (1996): Animal Liberation – Die Befreiung der Tiere, zweite Auflage, Rowohlt Verlag, Hamburg, S. 137.
[37] Ebenda, S. 83 und S. 104f.
[38] Ebenda, S. 71f.
[39] Singer, Peter (1994) Praktische Ethik, 2. Auflage, S. 96f. (englischer Originaltitel: Practical Ethics)
[40] Singer, Peter (1996): Animal Liberation – Die Befreiung der Tiere, zweite Auflage, Hamburg, Rowohlt Verlag, S. 260f.
[41] Regan, Tom (2016): Wie man Rechte für Tiere begründet, in: Krebs, Angelika (Hrsg.): Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion. 8. Auflage, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, S. 43–44.
[42] Vgl. für diese Zusammenfassung Regan, Tom (1983): The Case for Animal Rights, University of California Press, Berkeley (Kalifornien, USA), S. 57–66.
[43] Regan, Tom (2016): Wie man Rechte für Tiere begründet, in: Krebs, Angelika (Hrsg.): Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion. 8. Auflage, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, S. 41.
[44] Ebenda, S. 45–46.
[45] McCulloch, Steven Paul (2012): A Critique of FAWC’s Five Freedoms as a Framework for the Analysis of Animal Welfare, Royal Veterinary College, London, S. 3.
↑ Nach oben ↑