Was ist eine pathozentrische Umweltethik? Einfach erklärt: Welche Probleme einer Definition und Umsetzung ergeben sich bei einer pathozentrischen Ethik (Pathozentrik, Pathozentrismus)?
INHALT
Ansätze und Positionen moderner Vertreter der Tierrechtstheorie
Zum Unterschied zwischen einem Tierrechtler und Tierliebhaber
Die Problematik der Vermenschlichung von Tieren (Anthropomorphismus)
Was bedeutet pathozentrisch (englisch: pathocentric)? Was versteht man unter Pathozentrismus?
In der pathozentrischen Umweltethik (von griechisch pathein = fühlen, leiden und lateinisch centrum = Mittelpunkt) werden allen leidensfähigen Lebewesen Rechte zugesprochen.[1]
Sie beruht auf der Überzeugung, „dass alles Leben verwandt ist und dass insbesondere Menschen und Tiere auf ähnliche Weise leben und leiden“.[2]
Deshalb darf der Mensch die Tiere in der Natur nicht weiter aus ihren Rückzugsgebieten verdrängen und sie nicht zu eigenen Zwecken nutzen, die mit Schmerz und Leid für die Tiere verbunden sind.[3]
Die anthropozentrische Sonderstellung der Menschen als alleinige Träger von eigenständigen Rechten wird im Pathozentrismus also teilweise aufgehoben.
Pflanzenschutz wird in der pathozentrischen Philosophie deshalb betrieben, weil Pflanzen die Lebensgrundlage von Menschen und leidensfähigen Tieren sind und nicht weil Pflanzen eigene Rechte haben.
Erst die biozentrische Umweltethik bzw. der Biozentrismus gesteht auch Pflanzen eigene Rechte zu.
Die eingangs getroffene Definition einer Pathozentrik beantwortet nicht die Frage, ob leidensfähige Tiere ein Recht auf Leben haben oder ob sie von Menschen auch schmerzfrei getötet werden dürfen.
Ebenso lässt sie unbeantwortet, ob Menschen leidensfähige Tiere gentechnisch verändern dürfen oder ob ein solcher Eingriff in die Natur mit einer pathozentrischen Ethik unvereinbar ist.
Was sich in Bezug auf die Verursachung von Schmerzen und Leid von leidensfähigen Lebewesen nicht mit einem Pathozentrismus vereinbaren lässt, sind die Massentierhaltung und Tierversuche.
Als Kritik an einer pathozentrischen Umweltethik ließe sich einwenden, dass das Leid von Menschen wegen ihrer Fähigkeit zu denken größer sei als bei Tieren.
Aus diesem Grund argumentieren Gegner einer pathozentrischen Ethik, es könne nicht richtig sein, wenn alle leidensfähigen Lebewesen gleiche Rechte um ihrer selbst willen genießen.[4]
Befürworter einer pathozentrischen Ethik argumentieren, dass Tieren im Unterschied zu Menschen das folgende Wissen fehle:
Schmerzen können bisweilen nötig sein, um Schlimmeres zu verhindern.
Der Tod stellt das Ende allen Leidens dar.
Schmerzen können zeitlich begrenzt sein und bekämpft werden.[5]
Für die Beurteilung, wie stark Lebewesen unter Schmerzen zu
leiden haben, wäre es demnach von Bedeutung, inwieweit Lebewesen bei
erlittenen Schmerzen erkennen können,
welche Gründe sie haben,
wie lange sie dauern und
welche Folgen sie haben.
Wenn Menschen wissen, dass Schmerzen lange oder für immer andauern
können, kann ihr Leiden größer sein als das von Tieren, denen dieses
Wissen fehlt.
Wenn Menschen wissen, dass Schmerzen nur kurz andauern, und wenn sie den Grund dieser Schmerzen verstehen, kann ihr Leiden geringer sein als das von Tieren, denen dieses Wissen fehlt.
Tiere leiden also unter den Schmerzen einer medizinischen Behandlung wie dem Verabreichen einer Spritze, deren Notwendigkeit sie nicht verstehen können, möglicherweise stärker als Menschen.
Umgekehrt können Menschen unter einer medizinischen Behandlung stärker als Tiere leiden, wenn sie wissen, dass wie zum Beispiel beim Zahnarzt nach der Behandlung weitere Schmerzen folgen können.
Für die Beurteilung von Pro- und Contra-Argumenten zum Pathozentrismus kann also die Frage wichtig sein, über welches Wissen Lebewesen in dem Moment verfügen, wenn sie Schmerzen ausgesetzt sind.
In der Frage, wer den Pathozentrismus erfunden hat, kann in der Geschichte zwischen der westlichen und der östlichen Philosophie unterschieden werden.
Die östliche Philosophie, auch Philosophie des Morgenlandes genannt, bezieht sich auf den Kulturraum Asiens (speziell China, Indien und Japan), während sich die westliche Philosophie, auch Philosophie des Abendlandes genannt, auf Europa und die Vereinigten Staaten von Amerika (USA) bezieht.
Der antike griechische Philosoph Platon (428 – 347 v. Chr.) vertrat eine Seelenwanderungslehre, nach der Menschen, die sich von der Vernunft abwenden, im nächsten Leben als Tier geboren werden.[6]
Dieser Lehre nach wäre eine vegetarische Ernährung empfehlenswert, weil Tiere die Reinkarnationen von Menschen sein könnten. Tiere zu essen, könnte also bedeuten, die eigenen Vorfahren zu essen.
Vorläufer des Pathozentrismus gab es in der griechischen Antike bei Theophrast (Theophrastos von Eresos), einem Schüler von Aristoteles, und in der römischen Antike bei dem Philosophen Plutarch.
Vorläufer deshalb, weil beide Philosophen sich noch nicht für eigenständige Tierrechte aussprachen:
Theoprast (371–287 v. Chr.) gestand Tieren eine Schmerzempfindlichkeit zu und sprach sich für eine faire, rücksichtsvolle Behandlung von Tieren sowie für ein Verbot von religiösen Tieropfern aus, die er als grausam und sinnlos bezeichnete.[7]
Plutarch (45–125 n. Chr.) sprach sich gegen religiöse Tieropfer und gegen das Essen von Fleisch aus:
Zum einen, weil Tiere genauso schmerzempfindlich wie Menschen seien und zum anderen, weil sich Menschen ohne Probleme auch pflanzlich ernähren könnten.[8]
Weiter vertrat Plutarch die Ansicht, dass Tiere einen Eigenwert hätten und nicht einfach nur für die Menschen da wären.[8]
Deshalb sollten Haustiere und Nutztiere Fürsorge durch die Menschen erfahren und Wildtiere sollten geschont werden, wenn sie die Menschen nicht bedrohen und schädigen.[8]
Nach Plutarch würde Rohheit gegenüber Tieren auch zu Rohheit gegenüber Menschen führen.[8] Ein anthropozentrisches Argument, das weit nach ihm auch Immanuel Kant im 18. Jahrhundert vertrat.
Der Jainismus, eine Religion, die in Indien vor etwa 2.500 Jahren entstand, verlangt konsequent eine vegetarische Lebensweise und hat heute rund vier Millionen Anhänger, hauptsächlich in Westindien.[9]
Die führende Gestalt und der wesentliche Begründer des Jainismus war Mahavira, ein Zeitgenosse von Buddha, der die Weltreligion des Buddhismus begründete.[9]
Vertreter des Jainismus glauben, dass jeder Organismus, von Einzellern bis hin zu den Menschen, eine ewige Seele habe, weshalb jede Schädigung jeglicher Lebewesen, egal wie gering, zu vermeiden sei.[9]
Sowohl der Jainismus als auch der Buddhismus sprechen sich gegen Tieropfer aus und die hinduistische Praxis des Vegetarismus könnte ihren Ursprung im Jainismus haben.[9]
So ist es den Gläubigen dieser Religion, den sog. Jains, nicht gestattet, Landwirtschaft als Beruf zu betreiben, da dies Kleinstlebewesen im Boden schaden könnte.[9]
Im Sinne eines konsequenten vegetarischen Lebensstils vermeiden Jains traditionell das Essen nach Sonnenuntergang, da sie dabei unbeabsichtigt Kleinstlebewesen wie Insekten mitessen könnten.[10]
Darüber hinaus trinken sie nur abgekochtes und gefiltertes Wasser, um den Verzehr von winzigen, im Wasser lebenden Organismen zu minimieren.[11]
Fünf Dinge sind für alle Jains absolut verboten: Fleisch (einschließlich Fleischprodukte wie Gelatine), Fisch, Eier, Alkohol und Honig.[12]
Der Verzehr von Honig ist untersagt, weil er die Körpersekrete von Bienen enthält, und von Alkohol, weil der Prozess der Gärung und Destillation lebende Organismen vermehrt und zerstört.[11]
Ferner meiden Jains Nahrungsmittel, deren Produktion
Pflanzen oder Pilze durch Ausreißen oder Abschneiden tötet,
Keime zukünftigen Lebens zerstört oder
Kleinlebewesen schädigt, die in einer Pflanze leben.[9]
Hierzu zählen Früchte und Gemüse mit kleinen Samen wie
Feigen, Auberginen und Tomaten, Wurzelgemüse wie Karotten, Kartoffeln,
Knoblauch und Zwiebeln oder Blütengemüse wie Blumenkohl.[9]
Dass der Verzehr von Milch und Milchprodukten im Jainismus erlaubt ist, mag daran liegen, weil in früheren Zeiten der Bedarf an den Nährstoffen in Milchprodukten so groß war und weil Kühe (zumindest theoretisch) freundlich behandelt wurden.[11]
Einige Jains in Nordamerika meiden jedoch Milch und Milchprodukte, weil die Milchproduktion mit Gewalt verbunden ist und die Kühe getötet werden, wenn sie keine Milch mehr produzieren.[11]
Das Ahimsa-Symbol
Das zentrale Prinzip des Jainismus ist Ahimsa, übersetzt mit Nichtverletzung oder Gewaltlosigkeit, wobei eine zutreffendere Übersetzung „nicht schaden“ ist.[12]
Ahimsa ist nicht nur eine der wichtigsten Verhaltensregeln im Jainismus, sondern auch im Buddhismus, Hinduismus und Yoga und lässt sich in folgender Aussage zusammenfassen:
„Verletze, missbrauche, unterdrücke, versklave, beleidige, quäle, foltere oder töte keine anderen Geschöpfe (Lebewesen).“ [12]
Dabei berücksichtigt ein daraus folgender Gewaltverzicht auch, dass ein Schaden, den man anderen Lebewesen zufügt, nicht nur körperlicher, sondern auch geistiger und verbaler Natur sein kann.[12]
Jains verzichten auf jegliche tierische Bestandteile in ihrer Bekleidung, weshalb sie einen Jain-Tempel nicht mit Bekleidung aus tierischen Bestandteilen betreten können.[12]
In Indien meiden viele Jains Geschäfte, in denen Fleisch, Fisch oder Eier verkauft werden, und bezahlen die Besitzer von Schlachthäusern dafür, an bestimmten Feiertagen keine Tiere zu töten.[12]
Jains errichten Tierheime und Krankenhäuser für Kühe, Vögel und andere Tiere. Sie lassen die Vögel frei, wenn sie sich erholt haben, da sie nicht daran glauben, ein Recht darauf zu haben, sie einzusperren; aus demselben Grund halten heutige Jains im Allgemeinen keine Haustiere.[12]
Die Ehrfurcht von Jain-Mönchen und Jain-Nonnen vor allen Lebensformen ist so groß, dass sie keine Insekten töten, die sie stechen.[10]
Wandernde Mönche tragen sogar Masken, um kein Insekt versehentlich einzuatmen, und fegen beim Gehen den Boden vor sich mit einem Besen, um nicht versehentlich auf ein Lebewesen zu treten.[12]
Mahatma Gandhi (1869–1948), der geistige und politische Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung, soll stark durch den Jainismus geprägt worden sein.[10]
Jeremy Bentham
Mit seinen Überlegungen zu einer Tierethik, also dem ethischen Umgang von Menschen mit Tieren und deren Rechten, hat der englische Philosoph Jeremy Bentham den Pathozentrismus im 18. Jhd. in der westlichen Philosophie begründet.
Jeremy Bentham (1748–1832) war nicht nur Philosoph, sondern auch Sozialreformer und Begründer des Utilitarismus (lateinisch utilis: nützlich), einer normativen Ethik.
Im Utilitarismus ist eine Handlung nach ihrer Nützlichkeit zu beurteilen und dann sittlich geboten, wenn ihre Folgen für das Glück aller Betroffenen optimal sind.[13]
Jeremy Bentham forderte in der Beziehung von Menschen und Tieren erstmals eigenständige Tierrechte.
Er wies darauf hin, dass nicht nur Menschen leidensfähig sind, sondern auch Tiere und stellte damit die bislang vorherrschende Sonderstellung der Menschen in der anthropozentrischen Umweltethik in Frage.
Was war für Jeremy Bentham der Grund, Tiere nicht schlecht zu behandeln? Eine Antwort darauf gab er in seinem Werk „An Introduction to the Principles of Morals and Legislation“ aus dem Jahr 1789.
Dem Gleichheitsgrundsatz folgend, dass Gleiches auch gleich zu behandeln ist, war die Ähnlichkeit des Schmerzempfindens von Tieren und Menschen der Grund für Jeremy Bentham, dass eine Ausweitung von Tierrechten stattfinden sollte.[14]
Andere Lebewesen sollten nicht danach behandelt werden, ob sie denken oder sprechen können, sondern danach, ob sie Schmerzen und Leid empfinden können.[15]
Denn wenn alleine Vernunft und Sprachfähigkeit maßgebliche Kriterien für eigenständige Rechte von Lebewesen sind, dann müssten auch einige Menschen wie Tiere behandelt werden.[16]
Das gilt nicht nur für demente Menschen, sondern auch für Säuglinge, egal ob sie einen Tag, eine Woche oder einen Monat alt sind, denn ausgewachsene Pferde oder Hunde sind – so Jeremy Bentham – ungleich vernünftiger und mitteilsamer.[17]
Für die Einschätzung der Rechte leidensfähiger Lebewesen lautete für Jeremy Bentham die Frage also nicht „Können sie denken?“ oder „Können sie sprechen?“, sondern „Können sie leiden?“.[18]
Das bedeutet nicht, dass leidensfähige Tiere deswegen gleiche Rechte wie Menschen haben sollen:
Die Berücksichtigung der Interessen von Tieren bedeutet nach Jeremy Benthams Pathozentrik nur, dass es keinen Grund gibt, Tiere zu quälen, und nicht, dass sie nicht getötet werden dürfen, wenn sie Menschen angreifen oder auf dem Speiseplan der Menschen stehen.[19]
Dass er sich nicht für ein Tötungsverbot von Tieren aussprach, begründete Jeremy Bentham wie folgt:
Für Tiere könnte ein schneller Tod, den sie durch Menschen erleiden, weniger schmerzhaft und mit weniger Leid verbunden sein als der Tod, den Tiere im unvermeidlichen Lauf der Natur erwarten würden.[19]
So können Tiere in freier Natur zum Beispiel einem Angriff von Raubtieren ausgesetzt sein oder anderen Gefahren wie Krankheiten, Verletzungen, Naturkatastrophen, Erfrieren, Verhungern und Verdursten.
Als Folge von Jeremy Benthams Tierethik wurde in Großbritannien 1822 das erste Tierschutzgesetz in Kraft gesetzt, das Tierquälerei von Pferden, Rindern und Schafen unter Strafe stellte.[20]
Außerdem entstand 1824 in Großbritannien die erste Tierschutzorganisation der Welt, die Königliche Gesellschaft zur Verhütung von Grausamkeiten an Tieren (englisch: Royal Society for the Prevention of Cruelty to Animals, abgekürzt: RSPCA).
Um eine Antwort auf die Frage zu finden, warum Jeremy Bentham noch keine Tierversuche in seinem pathozentrischen Ansatz thematisiert hat, bietet sich ein Ausflug in die Geschichte an:
Die ersten belegten Tierversuche wurden bereits im antiken Griechenland im 5. Jhd. v. Chr. als Folge der immer stärker werdenden Naturphilosophie durchgeführt – allerdings in einem verglichen zu heute marginalen Umfang und zu Zwecken der allgemeinen Erforschung der Anatomie.[21]
Bis zum 18. Jhd. gab es noch keine massenhaften Tierversuche so wie heute. Das mag der Grund gewesen sein, warum sich Jeremy Bentham in seinem Werk von 1789 noch nicht zu Tierversuchen äußerte.
Erst im 19. Jahrhundert etablierten sich Tierversuche in dem heute verbreiteten industriellen Ausmaß mit Vertretern wie Georg Meissner und Robert Koch.[22]
Jeremy Bentham sprach sich zwar gegen Tierquälerei aus, dennoch kann nur darüber spekuliert werden, ob er massenhafte Tierversuche, wie in der heutigen Zeit, für ethisch akzeptabel gehalten hätte.
Denn es ist unbekannt, ob für Jeremy Bentham als Begründer des Utilitarismus (vgl. zuvor) Tierversuche ethisch gerechtfertigt gewesen wären.
Vermutlich ging man auch im 18. Jhd. fälschlicherweise davon aus, die Ergebnisse von Tierversuchen wären auf Menschen übertragbar und hätten einen direkten Nutzen für die Mehrheit der Menschen.
Dieses utilitaristische Argument hätte die mit Tierversuchen verbundene Qual der Tiere entkräftet.
Was die Probleme der industriellen Nutztierhaltung und den Ende der 1960er Jahre etablierten Begriff der Massentierhaltung in der Veterinärmedizin betrifft, gab es diese zu Lebzeiten von Jeremy Bentham ebenfalls noch nicht.[23][24]
Welchen Ansatz einer pathozentrischen Umweltethik also Jeremy Bentham bezüglich der Massentierhaltung vertreten hätte, auch darüber kann nur spekuliert werden.
Was man sagen kann, ist, dass der utilitaristische Ansatz von Jeremy Bentham eine richtungsweisende Grundlage für die weitere Entwicklung einer modernen Tierrechtstheorie geschaffen hat.
Nachfolgend werden die Ansätze und Positionen zwei moderner Vertreter in der Tierrechtstheorie und Tierethik in der westlichen Philosophie vorgestellt: Peter Singer und Tom Regan.
Beide Philosophen sprechen sich im Ergebnis dagegen aus, zwischen einer Ethik für Menschen und einer Ethik für Tiere zu unterscheiden.
Peter Singer
Ein moderner Vertreter von Tierrechten und Kritiker von Tierversuchen ist der australische Philosoph und Tierethiker Peter Singer (geb. 1946).
Er veröffentlichte 1975 sein Buch „Die Befreiung der Tiere“ (englischer Originaltitel: Animal Liberation), das sich zu einem Klassiker der modernen Tierrechtsbewegung entwickelte.
Darin teilt Peter Singer die Position von Jeremy Benthams Tierethik, wonach für die Begründung von Tierrechten nicht die Fähigkeit zu denken und zu sprechen maßgeblich ist, sondern die Fähigkeit zu leiden.[25]
Allerdings liefert Peter Singer, wie schon Jeremy Bentham vor ihm,
keine Argumente, warum folgende Annahmen begründet sein sollen:
Alle Tiere können Schmerzen empfinden – also auch wirbellose Tiere und nicht nur Wirbeltiere mit einem Zentralnervensystem.
Das Schmerzempfinden von Tieren kann subjektiv nach menschlicher Schmerzerfahrung beurteilt werden.
Als Folge dessen kann Peter Singer auch keine Begründung liefern, warum nur Wirbeltiere mit einem zentralen Nervensystem einen Eigenwert und damit eigenständige Rechte haben sollen.
Peter Singer begründet eine Tierethik, die Tierrechte berücksichtigt, durch ein Argument der Vernunft und den Hinweis auf das Gleichheitsprinzip:
Nehmen Menschen an, dass auch andere Menschen Schmerzen empfinden können wie sie selbst, ist das ebenso vernünftig wie die Annahme, dass Hunde, Katzen oder ähnlich hoch entwickelte Tiere Schmerzen empfinden können.[26]
Peter Singer weist darauf hin, dass höher entwickelte Säugetiere wie Delfine, Menschenaffen und Wale sowie Vögel offenkundig ein Nervensystem haben müssen, das dem der Menschen sehr ähnlich ist:
Denn auch höher entwickelte Tiere stoßen bei Schmerzen Laute aus, zucken oder zeigen ein Fluchtverhalten – so wie es auch Menschen tun.[27]
Aufgrund dessen kommt Peter Singer zu dem Schluss, dass alle Lebewesen mit der Fähigkeit, Schmerzen zu empfinden, Interessen haben, die berücksichtigt werden müssen.[28]
Diesen pathozentrischen Ansatz präzisiert er in seinem Werk „Praktische Ethik“ noch genauer:
„Wenn ein Wesen leidet, kann es keine moralische Rechtfertigung dafür geben, dieses Leiden nicht in Betracht zu ziehen. Unabhängig von der Art des Wesens verlangt der Gleichheitsgrundsatz, dass das Leiden mit dem gleichen Leiden – soweit vergleichbar – eines jeden anderen Wesens gleichgesetzt wird. Wenn ein Wesen nicht in der Lage ist, zu leiden oder Freude oder Glück zu empfinden, gibt es nichts zu berücksichtigen. Deshalb ist die Grenze der Empfindungsfähigkeit die einzige vertretbare Grenze moralischer Berücksichtigung der Interessen anderer.“ [29]
Genauso wenig wie es intelligentere Menschen berechtige, für ihre
Zwecke weniger intelligente Menschen auszunutzen, berechtige es
Menschen, nicht menschliche Wesen mit geringerer Intelligenz auszunutzen.[30]
Werden Tieren deshalb weniger Rechte zugesprochen, weil sie keine Menschen sind, dann liegt, so Peter Singer, ein sog. Speziesismus vor, also eine Diskriminierung durch die Bevorzugung der eigenen Spezies, die nicht begründbar ist.[30]
Den Begriff Speziesismus hatte bereits 1970 der britische Psychologe und Tierrechtler Richard Ryder verwendet, um den Egoismus der menschlichen Spezies auszudrücken, der sich aus einer anthropozentrischen Ethik ableitet und andere Spezies aus der Moral ausgrenzt.[31]
Von Bedeutung ist der Speziesismus bei der Frage, warum gegenüber höheren Säugetieren menschliche Lebewesen wie Babys oder Komapatienten eine Sonderstellung haben sollten.
Denn ihnen sind zum Beispiel ausgewachsene Gorillas, was geistige Fähigkeiten betrifft, überlegen.
Im Sinne des von Peter Singer kritisierten Speziesismus kann somit die durchschnittlich höhere Intelligenz von Menschen gegenüber anderen Lebewesen kein Kriterium für menschliche Sonderrechte sein.
Im Ergebnis kann einzig die Frage, ob Lebewesen leidensfähig sind und Schmerzen empfinden, das Kriterium sein, ob Interessen von Lebewesen zu berücksichtigen sind oder nicht.
Was Tierversuche betrifft, lehnt sie Peter Singer nicht generell ab. Seine Kritik setzt vielmehr bei der Frage an, ob Tierversuche einen direkten Nutzen für die Menschen haben und ob sie sich nicht durch andere Versuche wie zum Beispiel mit Zellkulturen ersetzen lassen.[32][33]
Denn bei Tierversuchen um der reinen Forschung willen bleiben die Interessen von Tieren gänzlich unberücksichtigt und das erzeugte Leid der Tiere steht dann in keinem ethisch tragbaren Verhältnis zum Nutzen der Experimente.[34]
Ist Peter Singer ein moderner Vertreter des Pathozentrismus? Diese Frage lässt sich bejahen, weil er im Unterschied zu Jeremy Bentham die ethische Rechtfertigung von Tierversuchen hinterfragt hat.
Als moderner Vertreter des Pathozentrismus hat Peter Singer außerdem neue Entwicklungen im 20. Jahrhundert aufgegriffen, die gravierenden Einfluss auf Tierrechte haben.
So fordert er die Abschaffung der industriellen Nutztierhaltung und zur Unterstützung des Protestes gegen die Massentierhaltung eine vegetarische oder vegane Lebensweise.[35][36]
Tom Regan
Ein weiterer moderner Vertreter eines pathozentrischen Ansatzes, wie man Rechte für Tiere begründet, war der US-amerikanische Philosoph Tom Regan (1938–2017).
Er teilte die Position von Peter Singer, wonach Menschen mit unterdurchschnittlicher Intelligenz oder Vernunft nicht einen geringeren Wert haben sollen wie Menschen mit durchschnittlicher Intelligenz oder Vernunft.[37]
Folglich muss dieser Zusammenhang, so Peter Singer, auch für Tiere gelten, bei denen sich wegen ihrer überwiegend geringeren geistigen Fähigkeiten ebenfalls kein geringerer Wert im Vergleich zu Menschen begründen lässt.[38]
In seiner aktiven Lehrzeit als Professor für Philosophie veröffentlichte Tom Regan im Jahr 1983 sein Buch „The Case for Animal Rights“, das als ein Klassiker der Tierrechtsbewegung und Tierethik gilt.
Das Buch enthält eine Kritik an Nutztierhaltung, Tierversuchen, Massentierhaltung und Tiertransporten, die über den pathozentrischen Ansatz von Peter Singer hinausreicht.
Wie lassen sich nach Tom Regan weitreichende Tierrechte begründen, die jegliche Nutzung von Tieren für menschliche Zwecke ausschließen?
Einfach erklärt besteht für ihn bei der unwürdigen Behandlung von Tieren folgender Zusammenhang:
Ein Pathozentrismus, der in der Tierhaltung und Tiernutzung nur eine Verringerung von Schmerzen und Leid der Tiere anstrebt, kann nicht der Würde von Tieren gerecht werden und würde nur ein falsches Wertesystem etablieren.[39]
Denn einfach ausgedrückt könnte man auch sagen: Schmerz ist Schmerz, wo immer er auftritt.
Tom Regan widersprach der Position des Utilitarismus, wonach es ein ethisch begründbares Recht von Menschen auf die Tötung von Tieren geben kann, wenn dadurch der Gesamtnutzen aller Beteiligten maximiert wird.[40]
Sein pathozentrischer Ansatz spricht allen empfindungsfähigen Lebewesen einen inneren Wert und damit innewohnende Rechte zu – unabhängig davon, welche Fähigkeiten oder welchen Nutzen sie haben.
Damit widersprach Tom Regan der relativierenden Position von Peter Singer zu Tierversuchen und er begründete seinen Ansatz mit den folgenden beiden Argumenten:
„Der gute Zweck heiligt nicht das schlechte Mittel.“ [41]
„Labortiere sind nicht unsere Vorkoster, wir sind nicht ihre Könige.“ [41]
Für Tom Regan werden Tiere mit mangelndem Respekt behandelt und ihre Rechte verletzt, solange ihr Wert lediglich daran bemessen wird, wie nützlich sie für andere sind.[41]
Demnach spielt es bei Tierversuchen keine Rolle, ob sie aus unnötigen oder unsinnigen Zwecken erfolgen oder ob sie versprechen, einen wirklichen Nutzen für die Menschheit zu erbringen.[41]
Genauso wie es keine Rechtfertigung für das Verletzen oder Töten eines Menschen zu Forschungszwecken gibt, gab es für Tom Regan auch keine Rechtfertigung für das Verletzen oder Töten einer „niederen Kreatur“ wie einer Laborratte.[41]
Wenn es um die Verwendung von Tieren in der Wissenschaft geht, ist das Beste, was Menschen tun können, sie nicht zu verwenden.[41]
Nach dem pathozentrischen Ansatz von Tom Regan stellt es ein Unrecht dar, wenn Tiere für Menschen zu erneuerbaren Ressourcen zählen, weshalb er sich auch für die Abschaffung der Nutztierhaltung, der Jagd und der Fallenstellerei aus kommerziellem oder sportlichem Interesse aussprach.[41]
Bei der Anwendung einer pathozentrischen Umweltethik im Rahmen des Tierschutzes ergeben sich verschiedene Probleme der praktischen Umsetzung, von denen einige nachfolgend beleuchtet werden.
Die Frage, wie Tiere ihr Leiden äußern, und die Messbarkeit ihrer Schmerzen sind von zentraler Bedeutung für die Durchführbarkeit einer pathozentrischen Umweltethik.
Denn die Messbarkeit von Schmerzen und Leiden bei Tieren ist Voraussetzung dafür, überhaupt bestimmen zu können, welche Tiere leidensfähig sind und welche nicht.
Dabei ist schon eine objektive Bestimmung von Schmerzen und Leiden bei Menschen schwierig, denn Menschen können das Leiden anderer Menschen nur indirekt und aus ihrer eigenen Schmerzerfahrung heraus erfassen.
Noch schwieriger ist eine objektive Bestimmung von Schmerzen und Leiden bei Tieren, denen von Natur aus die Fähigkeit zum Sprechen fehlt.
Als Folge dessen können Tiere einen empfundenen Schmerzgrad nicht durch Sprache und nicht auf einer Schmerzskala zum Ausdruck bringen.
Solange es noch keine objektive Schmerzmessung gibt, können immer nur Menschen subjektiv von ihren eigenen Schmerzerfahrungen auf die Schmerzen von Tieren schließen.
Bei der praktischen Anwendung einer pathozentrischen Ethik können somit nur Menschen stellvertretend für die Tiere deren Schmerzen oder Leiden beurteilen.
Allerdings ist diese Stellvertreterfunktion in der Praxis mit dem Problem konfrontiert, dass Menschen unterschiedlich schmerzempfindlich sind und Schmerzen unterschiedlich äußern.
Manche Menschen sind sogar in hohem Maße dazu in der Lage, ihre
Gefühle oder Schmerzen vor der Außenwelt zu verbergen oder nahezu
auszuschalten (Analgesie). Beispiele hierfür sind:
Antrainierte Schmerzunempfindlichkeit von Fakiren, Kampfsportlern und Soldaten
Anerzogene Gefühlstaubheit von klein auf („Ein Indianer kennt
keinen Schmerz“, „Heulsuse“, „Angsthase“, „Weichei“, „Was uns nicht umbringt, macht uns härter“, „Männer weinen nicht“)
Außerdem können erlebte Traumata den Umfang bestimmen, mit dem seelische Schmerzen zum Ausdruck gebracht werden können. Das dürfte gleichermaßen für Menschen und Tiere gelten.
Fraglich ist deshalb beim Ansatz der pathozentrischen Umweltethik, ob sich von Schmerzen und Leiden bei Menschen auf Schmerzen und Leiden bei Tieren zurückschließen lässt.
Gemäß der eingangs vorgestellten Definition wird im Pathozentrismus die Forderung aufgestellt, dass alle schmerz- und leidensfähigen Lebewesen eigene Rechte haben sollen.
Folglich muss diese Forderung auch für alle schmerz- und leidensfähigen Tiere gelten. Was zunächst selbstverständlich klingt, erweist sich in der Praxis als eine problematische Forderung:
Wie sich in westlichen Industrieländern zeigt, wird dort zwischen „höherwertigen Tieren“ und „niederwertigen Tieren“ unterschieden, selbst wenn diese in ihrer Leidensfähigkeit auf einer Stufe stehen.
Wie sonst ist es zu erklären, dass „höherwertigen“ Haustieren wie Katzen und Hunden größtenteils mehr Rechte zugesprochen werden als „niederwertigen“ Nutztieren wie Enten, Hühnern, Puten (Truthähnen), Rindern, Schafen, Schweinen und Ziegen?
Foto: Kurzhaar-Dackel auf einer Garten-Wiese *
Hinzukommt, dass „niederwertige“ Nutztiere den „höherwertigen“
Haustieren als Futter vorgesetzt werden, was in der Werbung von Hundefutter- und Katzenfutter-Herstellern zum
Ausdruck kommt.
Dabei lassen sich Werbeslogans wie „Wer seinen Hund liebt, gibt ihm Hundefutter der Marke x“ oder „Katzen würden Katzenfutter der Marke x kaufen“ nicht mit einer pathozentrischen Ethik vereinbaren.
Bleibt die Frage, nach welchen Kriterien Menschen festlegen, welche Tiere „höherwertig“ und welche Tiere „niederwertig“ sind, um ihnen unterschiedliche Rechte zuzusprechen.
Eine Erklärung für die Ungleichbehandlung von Tieren könnte sein, dass Menschen bestimmte Tiere besonders sympathisch finden oder bestimmte Tiere einen emotionalen Nutzen für Menschen haben.
Zu Haustieren, die in ihren privaten Räumlichkeiten leben, bauen viele Menschen eine ähnlich starke emotionale Bindung auf wie zu Freunden, Kindern und Familienmitgliedern.
Zu Nutztieren, die in entfernten Ställen, Gehegen, Käfigen, Legebatterien, Weiden oder Laboren leben, bauen viele Menschen dagegen keine emotionale Bindung auf.
Die Begründung dafür könnte sein, dass Menschen psychologisch
die Nutztiere anonymisieren,
das Schicksal von Nutztieren verdrängen und
die Verantwortung für die Schmerzen und das Leiden von Nutztieren auf andere Menschen wie zum Beispiel Schlachter, Tierversuchswissenschaftler oder Tiertransporteure übertragen.
Weitere Gründe für die gelebte Doppelmoral gegenüber Tieren könnte
ihre Größe sein. Im Unterschied zu Hunden oder Katzen eignen sich
Rinder, Schafe oder Schweine nicht als Haustiere in Wohnungen.
Foto: Ein Kater mit goldrotem Fell auf einer Garten-Terrasse *
Allerdings würden sich Hühner, Truthähne (Puten) oder Enten wegen ihrer
Größe durchaus auch als Haustiere eignen. Die Größe von Tieren
bietet somit keine alleinige Erklärung, warum die einen als Haustiere
und die anderen als Nutztiere von den Menschen gehalten werden.
Blieben noch als weitere Erklärung das Aussehen von Tieren, bestimmte Verhaltensweisen von Tieren oder wie „sympathisch“ Tiere wirken, warum sie für Menschen eher als Haustiere in Frage kommen.
Das wiederum könnte mit der emotionalen Bindung in Verbindung stehen, die Menschen kulturell bedingt und folglich gewohnheitsmäßig zu Tieren aufbauen.
Eines dürfte feststehen: bei der praktischen Umsetzung einer pathozentrischen Umweltethik ist die willkürliche Zuordnung unterschiedlicher Rechte für Haustiere und Nutztiere nicht begründbar und dementsprechend fehlt es bislang noch an einer schlüssigen Erklärung.
Wenn im Pathozentrismus alle leidensfähigen Lebewesen ein Recht darauf haben, dass ihnen kein Leid zufügt wird, dann ergibt sich automatisch für sie die Pflicht, anderen leidensfähigen Lebewesen umgekehrt auch kein Leid zuzufügen.
Als Folge dessen würde eine pathozentrische Umweltethik bei ihrer praktischen Anwendung nicht nur Menschen, sondern auch Tiere gegenüber schmerz- und leidensfähigen Lebewesen verpflichten.
Dadurch würde sich zum Beispiel die Situation ergeben, dass Raubtiere in der Natur auf die Rechte ihrer Beutetiere achten müssten – eine Forderung, die sie mangels Denkvermögen nicht erfüllen könnten.
Nur Menschen sind wegen ihrer geistigen Fähigkeiten in der Lage, ethische Verhaltensregeln einzuhalten. Im Unterschied zu Tieren unterliegen sie nicht vollständig dem Überlebensgesetz „Fressen und gefressen werden“, dem fleischfressende Raubtiere in der Natur unterworfen sind.
Jedoch ist fraglich, auf welche Weise Menschen in das Verhältnis zwischen Raubtieren und ihren Beutetieren, die selbst wiederum Raubtiere gegenüber schwächeren Tieren sein können, eingreifen können.
Wenn beispielsweise eine Katze eine Maus gefangen hat und diese noch lebt, sollten dann die Menschen der Katze diese Maus wegnehmen und sie an einem sicheren Ort wieder aussetzen?
Oder sollten die Menschen, wenn sie bemerken, dass eine Katze dabei ist, eine Maus zu fangen, versuchen, die Katze daran zu hindern?
Weiter stellt sich die Frage, wenn Tiere die Rechte anderer Tiere und von Menschen beeinträchtigen (indem sie sie zum Beispiel angreifen und verletzen), ob sie dann bestraft werden müssten und falls ja, wie.
Dabei ergibt es sich von selbst, dass die Einführung von Tiergerichten keinen Sinn ergeben würde, um dort Tiere zu verurteilen, die gegen pathozentrische Grundsätze verstoßen haben:
Diese Tiere kann keine Schuld treffen, da sie keine vernunftbegabten Wesen sind, die ihre Handlungen bewusst planen oder die Konsequenzen ihrer Handlungen erkennen und im Voraus bedenken können.
Oder wenn Tiere Pflanzen schädigen, welche die Lebensgrundlage von anderen leidensfähigen Tieren sind, müssten sie dann davon abgehalten werden und falls ja, auf welche Weise?
Oder angenommen, leidensfähige Tiere wandern mit Hilfe des Menschen in ein Gebiet ein und bedrohen dort ansässige Pflanzenarten und Tierarten in einem Maße, dass diese vom Aussterben bedroht sind.
Müssten bzw. dürften diese eingewanderten Tiere (sog. Neozoen) dann von den Menschen konsequent umgebracht werden, um die durch sie bedrohten Pflanzenarten und Tierarten zu erhalten?
Diese beispielhaften Fragen zeigen bereits die Absurdität auf, die sich bei einer konsequenten Anwendung einer pathozentrischen Umweltethik im praktischen Leben ergeben würde.
Vieles spricht dafür, einen Pathozentrismus nicht absolut zu verstehen und geltende Naturgesetze auf der Erde zu akzeptieren, nach denen es schlichtweg unmöglich ist, alles irdische Leben zu berücksichtigen.
Zur Umsetzung von Tierrechten können die Fünf Freiheiten von Tieren in der Landwirtschaft des britischen FAWC (Farm Animal Welfare Committee) Bewertungskriterien für Tierwohl bereitstellen.
Dieses Tierschutz-Konzept wurde Anfang der 1990er Jahre von John Webster, einem englischen Tierschützer, Tierarzt und Professor für Tierhaltung an der Universität Bristol (Großbritannien), entwickelt.
Im Einzelnen beinhalten die Fünf Freiheiten folgende ideale Voraussetzungen für das Tierwohl: [42]
1. Freiheit von Durst, Hunger oder Mangelernährung
Ermöglicht wird das durch den freien Zugang zu frischem Wasser und
einer Nahrung, die den Tieren ihre vollständige Gesundheit und Vitalität
erhält.
2. Freiheit von Unbehagen
Ermöglicht wird das durch die Bereitstellung einer angenehmen
Ruhezone und geeigneten Umgebung inklusive eines Unterstandes für die
Tiere.
3. Freiheit von Schmerz, Verletzung und Krankheit
Ermöglicht wird das durch bauliche Maßnahmen, die Verletzungen
vorbeugen, und tiermedizinische Untersuchungen, um Krankheiten
vorzubeugen oder schnell diagnostizieren und behandeln zu können.
4. Freiheit von Angst und Leiden
Ermöglicht wird das durch die Sicherstellung von Bedingungen und Behandlungen, die das psychische Leiden von Tieren vermeiden.
5. Freiheit zum Ausleben normaler Verhaltensmuster
Ermöglicht wird das durch die Bereitstellung von ausreichend Platz in einer geeigneten Umgebung, die den normalen, angeborenen Verhaltensmustern der Tiere entspricht, und die Gesellschaft von Artgenossen, falls es sich nicht um Tiere handelt, die außerhalb der Paarungszeit Einzelgänger sind.
Die Fünf Freiheiten enthalten also insgesamt zehn allgemeine Bedingungen zur Analyse des Tierwohls:
Durst, Hunger, Mangelernährung, Unbehagen, Schmerz, Verletzung, Krankheit, Ausleben normaler Verhaltensmuster, Angst und (psychisches) Leiden.
Anhand dieser Bedingungen kann versucht werden, das Tierwohl in konkreten Fällen zu analysieren.
Es bleibt jedoch Aufgabe der pathozentrischen Tierethik, zu erklären, wie diese Bedingungen jeweils zu gestalten sind, damit sie aus ethischer Perspektive als akzeptabel gelten können.
Eine mögliche Kritik am Konzept der Fünf Freiheiten wäre, dass in den ersten vier Freiheiten von fehlendem Tierwohl ausgegangen wird und damit von negativen Zuständen, in denen sich Tiere befinden.
Ausgangspunkt der ersten vier Freiheiten könnte ebenso gut ein bestehendes Tierwohl sein und damit genau zu bezeichnende positive Zustände, in denen sich Tiere befinden sollten.
Als mögliche Zustandsbeschreibungen kämen zum Beispiel Begriffe wie Sattheit, vollwertige Ernährung, Freude, Gesundheit, Unversehrtheit, Vergnügen, Wohlbefinden oder Zufriedenheit in Betracht.
Würden die Fünf Freiheiten auch als Bewertungskriterien für das Tierwohl in Tierversuchslaboren verwendet, hätte das unweigerlich ein Verbot von Tierversuchen zur Folge.
Denn in Tierversuchslaboren kann von den Fünf Freiheiten nur die erste Freiheit erfüllt werden, und die Tiere können nur von Durst, Hunger und Mangelernährung verschont werden.
Es leuchtet unmittelbar ein, dass Tierversuche nicht mit den anderen vier Freiheiten vereinbar sind.
Fraglich ist ferner, ob das Halten von Haustieren vollends mit den Fünf Freiheiten vereinbar wäre. Zu hinterfragen wäre zum Beispiel das Halten von:
Katzen als Stubenkatzen statt als Freigänger, weil Katzen als ein Inbegriff von Freiheit gelten
Hunden, Kaninchen und Meerschweinchen als isolierte Einzeltiere, obwohl diese in Rudeln leben
Vögeln in Käfigen, die ihnen das freie Fliegen unmöglich machen
Hamstern in Käfigen, obwohl diese normalerweise in unterirdischen Tunnelsystemen leben
Vorausgegangen war den Fünf Freiheiten 1964 das Buch Animal Machines der Tierrechtsaktivistin Ruth Harrison (1920–2000), in dem sie die Zustände in der Nutztierhaltung in Großbritannien beschrieb.
Der Druck der öffentlichen Empörung über die im Buch geschilderten Zustände bewirkte, dass die britische Regierung einen Ausschuss ins Leben rief, der das Tierwohl von Nutztieren untersuchen sollte.
Die Arbeit des Ausschusses mündete 1965 im sog. Brambell Report; benannt nach ihrem Leiter, dem irischen Zoologen und Universitätsprofessor Francis Brambell (1901–1970).
Der Brambell Report forderte, dass Tiere in der Landwirtschaft die Freiheit haben müssen, 1. zu stehen, 2. sich hinzulegen, 3. sich umzudrehen, 4. sich zu putzen und 5. ihre Gliedmaßen zu strecken.[43]
Diese fünf Forderungen wurden auch unter dem Namen „Brambells fünf Freiheiten“ bekannt und waren die Grundlage für die Ausarbeitung einer detaillierteren Liste mit Bedürfnissen von Nutztieren.
Als Folge dessen entstand schließlich 1979 das Farm Animal Welfare Council (FAWC), das noch im selben Jahr die eingangs erwähnten Fünf Freiheiten von Tieren in der Landwirtschaft veröffentlichte.
Die Fünf Freiheiten des FAWC entwickelten sich im Laufe der Zeit zu einem Standard für die Beurteilung von Tierwohl in der Landwirtschaft, der international von Tierrechtsorganisationen und für die Entwicklung von staatlichen Tierschutzgesetzen herangezogen wird.
Die Vermutung, dass Menschen alleine aus emotionalen Gründen zwischen Haustieren und Nutztieren unterscheiden, ist bei näherer Betrachtung nicht haltbar und führt zur Klärung des Unterschiedes zwischen einem Tierrechtler und Tierliebhaber.
Denn paradoxerweise werden mit den beliebtesten Haustieren der Menschen, also mit Katzen, Hunden, Kaninchen, Meerschweinchen und Hamstern, Tierversuche durchgeführt.
Der offenkundige Widerspruch, mit dem die Menschen als „höchst entwickelte Spezies auf der Erde“ ihre beliebtesten Haustiere so unterschiedlich behandeln, lässt sich rational nicht erklären.
Ebenso wenig dürfte es rational erklärbar sein, warum Tiere wie Hunde oder Katzen nicht auf dem Speiseplan von fleischessenden Menschen auf der ganzen Welt stehen.
Denn aus der Perspektive einer pathozentrischen Ethik betrachtet, gibt es keine plausible Erklärung, warum Rinder, Schweine oder Hühner weniger leidensfähig sein sollten als Hunde oder Katzen.
Auch wenn dafür kulturelle Gründe angeführt werden könnten, hätte das mit einer pathozentrischen Umweltethik wenig zu tun, sondern vielmehr mit einer anthropozentrischen.
So stehen zum Beispiel in einigen südostasiatischen Ländern wie Indonesien, Kambodscha, Nordkorea und Vietnam nach wie vor Hundefleisch und Katzenfleisch auf dem menschlichen Speiseplan.
Dabei sollte man nicht der Täuschung unterliegen, dass in westlichen Industrieländern das Essen von Hundefleisch oder Katzenfleisch von je her tabu war oder ist:
In der Bundesrepublik Deutschland wurde erst im Jahre 1986 durch eine Änderung des Fleischbeschaugesetzes das Schlachten von Katzen und Hunden zur Fleischgewinnung verboten.
Dagegen ist in der Schweiz nur der Handel mit Hundefleisch und Katzenfleisch verboten, während der Verzehr von eigenen Haustieren zum Eigenbedarf erlaubt ist (vgl. Lebensmittelgesetz § 2 Abs. 4 lit. a).
Folgende Begriffsdefinitionen könnten Ordnung in die Widersprüche bringen:
Tierrechtler sind an den Interessen aller Tiere interessiert, unabhängig davon, ob Tiere einen emotionalen oder einen anderweitigen Nutzen für Menschen haben.
Tierliebhaber sind an den Interessen bestimmter und nicht aller Tiere interessiert, weil es für sie von Bedeutung ist, ob sie einen emotionalen Bezug zu einem Tier haben oder ob ein anderweitiger Nutzen besteht, was auch innerhalb einer Tierart gelten kann (vgl. Tierversuche mit Hunden).
Daraus ergibt sich, dass Tierrechtler pathozentrisch und Tierliebhaber anthropozentrisch motiviert sind.
Generell kann den Menschen nicht die Missachtung pathozentrischer Grundsätze vorgeworfen werden, denn vielfach findet eine Gleichbehandlung von Tieren und Menschen statt.
Teilweise stehen Tiere in Industrieländern sogar auf einer höheren
Stufe wie Menschen, vergleicht man ihre Versorgungslage mit der von
großen Bevölkerungsteilen in den Entwicklungsländern oder
einkommensschwächeren Menschen in den Industrieländern.
Den Wahrheitsgehalt dieser These sollen die nachfolgenden Beispiele einer Gleichbehandlung von Menschen und Tieren bestätigen.
Wie sich mit Ausnahme von ausgesetzten oder vernachlässigten Tieren zeigt, ist die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Nährstoffen von Haustieren in den Industrieländern vergleichbar mit der von dort lebenden Menschen.
Sie ist mehrheitlich sogar besser als die Nahrungsmittelversorgung vieler Menschen in den Entwicklungsländern. Sowohl was die Menge und Regelmäßigkeit betrifft, als auch die Qualität.
Davon zeugt nicht nur das im Handel erhältliche umfangreiche Angebot von hochwertigem Hundefutter oder Katzenfutter, sondern auch – was sich leicht beobachten lässt – der Einkauf von hochwertigem Frischfleisch in Metzgereien von Hundehaltern und Katzenhaltern für ihre Tiere.
Und ohne zum Beispiel eine größere Anzahl von Hundebesitzern befragen zu müssen, lässt sich außerdem relativ leicht herausfinden, dass einige von ihnen regelmäßig für ihre Tiere kochen.
Berücksichtigt man noch das vielfältige Angebot im Handel von Nahrungsergänzung für Tiere, bestätigt sich auch bei der Nährstoffversorgung vielfach eine Gleichbehandlung von Menschen und Tieren.
Allerdings offenbart sich bei dieser Gleichbehandlung in der Nahrungsmittelversorgung paradoxerweise auch eine Ungleichbehandlung von Haustieren und Nutztieren, wie sie zuvor thematisiert worden ist.
Denn im Fall des Einkaufs von Frischfleisch oder Fleischprodukten für Haustiere werden die Interessen von leidensfähigen Nutztieren, deren Fleisch die Grundlage dieses Futters ist, gänzlich vernachlässigt.
Diese Vernachlässigung von Tierrechten lässt sich aus pathozentrischer Perspektive nicht begründen.
Die medizinische und therapeutische Versorgung von Haustieren in den Industrieländern ist vielfach vergleichbar mit der von dort lebenden Menschen.
Vereinzelt ist sie sogar besser als die einkommensschwächerer Schichten in der dortigen Bevölkerung.
Davon zeugt nicht nur die flächendeckend vorhandene Infrastruktur privater Tierarztpraxen und Tierkliniken, sondern auch das umfangreiche Angebot von therapeutischen Dienstleistungen für Tiere.
So sind gerade für Hunde eine Vielzahl neuer therapeutischer Berufe entstanden wie zum Beispiel Bewegungstrainer, Ernährungsberater, Fitnesstrainer, Masseure, Physiotherapeuten oder Psychologen.
Allerdings stellt sich die Frage, ob Hunde, die so frei wie möglich auf dem Land und nicht in einer Stadtwohnung leben, überhaupt Bedarf an einem solchen therapeutischen Angebot hätten.
Aus pathozentrischer Sicht vermag selbst die umfangreichste therapeutische Versorgung nichts daran zu ändern, dass Haustiere meist nicht nach ihren natürlichen Bedürfnissen leben können.
Das betrifft ihren natürlichen Bewegungsdrang, ihr Fortpflanzungsverhalten oder ihr Gruppenbedürfnis.
Und damit zusammenhängend die Frage, ob Haustiere Freude dabei empfinden, nicht in Freiheit leben zu können oder vielmehr darunter leiden, nach den Vorstellungen ihrer Halter leben zu müssen.
Entspricht es zum Beispiel den natürlichen Bedürfnissen von Katzen, deren Freiheitsdrang und Unabhängigkeit sinnbildlich sind, wenn sie ausschließlich als Stubenkatzen gehalten werden und sich ihr gesamtes Leben nie frei und selbstbestimmt in der Natur bewegen können?
Wer einmal die Gelegenheit hatte, eine Katze als Freigänger in der Natur bei einem Streifzug durch eine Blumenwiese beobachten zu können, kennt die Antwort auf diese Frage.
Foto: Ein Langhaar-Kater mit leuchtend goldrotem Fell unter einem Strauch in der Abendsonne *
„Ein Hund ist ein Angestellter und eine Katze ein freier Mitarbeiter.“
(Hans Fries, 1920–2003, deutscher Filmproduzent und Filmproduktionsleiter) [44]
Ein weiteres Beispiel für die Gleichbehandlung von Menschen und Tieren sind Tierfriedhöfe (oder Hundefriedhöfe), auf denen verstorbene Haustiere vergleichbar mit Menschen ihre letzte Ruhe finden.
Im deutschsprachigen Raum ist die Stadt Berlin bekannt geworden für Hundefriedhöfe und Tierfriedhöfe, wo sich einige dieser Sonderformen eines Friedhofes befinden als Beispiele eines Pathozentrismus.
Der älteste Berliner Hundefriedhof wurde ursprünglich im Bezirk Steglitz-Zehlendorf im Ortsteil Lankwitz errichtet und befindet sich mittlerweile im Bezirk Lichtenberg (Ortsteil Alt-Hohenschönhausen).
Auf dem Hundefriedhof wurden seit 1951 über tausend Hunde mit aufwendiger Grabgestaltung bestattet und darüber hinaus zahlreiche Katzen sowie vereinzelt Vögel und exotische Tiere.
Im gleichen Stadtbezirk im Ortsteil Steglitz befindet sich auch der größte Tierfriedhof in Berlin, die Bärolina, mit mehr als 4.000 Tiergräbern.
Der älteste, bis heute bestehende Hundefriedhof im deutschsprachigen Raum befindet sich in einem Fichten-Wald in Barsberge in der Nähe der Hansestadt Seehausen (Region Altmark, Sachsen-Anhalt).
Der Hundefriedhof Barsberge geht zurück auf einen ortsansässigen Jäger, der dort im Jahr 1878 seinen treuen Hund Nimroth zwischen den Fichten im Waldgebiet Barsberge aus Dankbarkeit mit einem Grabstein beisetzte.
Der erste und größte Tierfriedhof in den USA, der Hartsdale Pet Cemetery, befindet sich in Westchester County im Bundesstaat New York, auf dem seit 1896 über 80.000 Tierbestattungen stattfanden.
Foto: Der Eingang zum Hartsdale Pet Cemetery Tierfriedhof in Westchester County im Bundesstaat New York
Fast so alt ist der Tierfriedhof „Cimetière des Chiens“ nordwestlich
von Paris, in dem seit 1899 Hunde, Pferde, Affen, Löwen und
sogar Fische bestattet wurden. Er steht seit 1987 unter
Denkmalschutz.
Dabei ist die Bestattung von Tieren auf Friedhöfen als Beispiel für einen praktisch umgesetzten Pathozentrismus kein neuzeitliches Phänomen. In Peru fand man etwa 1.000 Jahre alte Tiergrabstätten:
Die darin gefundenen Hunde waren in Decken gehüllt und mit Leckerbissen für das Leben nach dem Tod in einem Grab entweder alleine oder gemeinsam mit Menschen bestattet – vermutlich als Dank für ihre Verdienste um die Familie.[45]
Das älteste, bislang bekannte Hundegrab – ebenfalls gemeinsam mit Menschen – wurde 1914 in einem Steinbruch in Bonn-Oberkassel gefunden und soll aus der Zeit 12.000 bis 11.350 v. Chr. stammen.[46]
Foto:
Der 1980 gegründete Tierfriedhof in Saarbrücken (Saarland,
Bundesrepublik Deutschland) für Bestattungen von Haustieren aller Arten
Auch in religiöser Hinsicht gibt es ein Beispiel, in dem Tieren gleiche Rechte zugestanden werden wie Menschen, und das als Umsetzung einer pathozentrischen Umweltethik gewertet werden kann.
So werden in Indien nach hinduistischer Religion Kühe als heilig verehrt. Sie genießen vielerorts die Dankbarkeit der Menschen und sind ein Symbol für Fürsorge und Lebenserhaltung, weil sie das Überleben der Menschen sicherten:
Kühe lieferten früher in Indien nicht nur Nahrung, sondern auch wertvollen Dünger für Hausbau, Heizung und Ayurveda-Medizin oder ihre Arbeitskraft als Zugtiere zur Bestellung der Felder und als Transporttiere.
Im Hinduismus ist die Kuh die Mutter allen Lebens und steht im Zusammenhang mit dem Gott Krishna, der nach der heiligen Schrift Bhagavatapurana als Hirte unter Kuh-Hirten aufgewachsen sein soll.[47]
Als Folge der religiösen Verehrung von Kühen im Hinduismus gibt es in Indien über das ganze Land verteilt mehr als 5.000 Kuhheime (indisch: Gaushala, Goshala) von unterschiedlicher Qualität, die über 600.000 Kühe beherbergen.[48]
Erwähnungen von Gaushalas finden sich erstmals im 12. Jhd. – vermutlich gab es Vorläufer bereits im 4. Jhd. vor Christus, indem unproduktive Rinderherden am Leben gelassen und gepflegt wurden.[49]
Sie werden in der heutigen Zeit als Wohltätigkeitsprojekte betrieben und zum Beispiel von wohlhabenden Indern, durch den Verkauf von Milch oder durch Spenden von Besuchern finanziert.[49]
In Gaushalas, was übersetzt so viel wie „Heime für Kühe“ bedeutet, werden verlassene, verletzte, kranke oder alte Kühe aus Dankbarkeit der Menschen bis an ihr Lebensende gefüttert und gepflegt.[50]
Gaushalas gehören zum kulturellen Erbe Indiens und veranschaulichen die Ehrfurcht und Zuneigung gegenüber Tieren, insbesondere Kühen, in Indien.[50]
Sie werden in der heutigen Zeit als Wohltätigkeitsprojekte betrieben und zum Beispiel durch wohlhabende Inder, den Verkauf von Milch oder Spenden von Besuchern finanziert.[50]
Allerdings werden die Kühe und Rinder in vielen Gaushalas in Indien noch immer sehr schlecht gehalten:
Sie stehen bei Hitze, Kälte oder Regen im Freien und haben unter zu
wenig Platz, Futter, Wasser, Hygiene, medizinischer Versorgung und
Betreuung (fällt ein Tier um, bleibt es liegen, bis es stirbt) zu
leiden.[51]
„Es reicht nicht aus, Kühe einfach nur einzusperren und sich selbst auf die Schulter zu klopfen.
Es muss auch sichergestellt werden, dass sie sich wohlfühlen.“
(Maneka Sanjay Gandhi, indische Politikerin, Schriftstellerin, Umwelt- und Tierrechtsaktivistin) [51]
Foto: Wandermönch (Sadhu) mit einer jungen, heiligen Kuh in Indien
Jedoch sollte die Kehrseite der Medaille von dieser aus religiösen
Gründen gelebten pathozentrischen Umweltethik in Indien nicht unerwähnt bleiben:
Weil Kühe und Rinder unter besonderem Schutz stehen und nicht getötet werden dürfen, leben mittlerweile in Indien Millionen heimatloser Kühe und Rinder auf der Straße. Hintergrund dessen ist:
Wenn Kühe mit zunehmendem Alter weniger Milch geben oder keine Grasflächen für sie zur Verfügung stehen, werden sie von ihren Bauern ausgesetzt. Sie werden also sich selbst überlassen, obwohl sie im Hinduismus heilig sind.
Dieser Gegensatz erklärt sich durch eine Grundhaltung im Hinduismus. Danach dürfen sich Gläubige zwar durch das Töten der Tiere nichts zu Schulden kommen lassen, doch deren weiteres Schicksal muss sie nicht interessieren.[52]
In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, dass nicht alle Kühe in Indien heilig sind, sondern nur reine, einheimische Rassen. Kreuzungen und ausländische Kuharten fallen nicht darunter.
Dabei leben die herumstreifenden, meist abgemagerten Straßenkühe unter erbärmlichen Bedingungen und müssen sich von Abfällen bis hin zu Plastikverpackungen ernähren.
Hier zeigt sich das Dilemma der praktischen Umsetzung einer Pathozentrik in Indien:
Um Milch zu geben, müssen Kühe jährlich ein Kalb bekommen. Wenn die Menschen jedoch auf Milchkonsum nicht verzichten möchten und Kühe heilig sind, resultieren daraus immer mehr lebende Kühe.
Somit kann die religiös begründete Tradition der heiligen Kühe in Indien nur auf den ersten Blick als die praktische Umsetzung einer pathozentrischen Umweltethik bezeichnet werden.
Es stellt sich vielmehr die Frage, ob diese Tradition, was ihre Umsetzung betrifft, bei genauerer Analyse nicht anthropozentrisch begründet sein könnte.
Eine pathozentrische Umweltethik bleibt in vielen Fällen des täglichen Lebens unbeachtet. Ausgewählte Beispiele sollen das stichpunktartig verdeutlichen.
Eine Missachtung pathozentrischer Grundsätze liegt vor in folgenden Fällen:
Tierkämpfe und Tierspiele, wie zum Beispiel:
· Stierkämpfe (Corrida) in Spanien, Portugal, Südamerika oder Südfrankreich
· Kuhkämpfe in der Schweiz (Eringer Kühe im Kanton Wallis)
· Hahnenkämpfe u. a. in Belgien, Frankreich, Italien und Südamerika oder auf den Philippinen
· Rodeos in Brasilien und Nordamerika
Jagd als „Sportart“ oder „aus Vergnügen“ wie die u. a. in Italien beliebte Jagd von Hobbyjägern auf Zugvögel oder die Trophäenjagd in Ungarn
Tierhandel mit wilden Tieren wie Reptilien und Vögeln
Massentierhaltung von Schweinen, Hühnern und Rindern
Aussetzen von Haustieren in freier Natur – speziell in der Urlaubszeit [53]
Nicht artgerechte Tierpflege und Tierfütterung
Leidvolle Tiertransporte aufgrund von Tierhandel, Tierschlachtung und Tierzucht
Halten von Tieren in Zoos, wo sich beobachten lässt, dass sich zum Beispiel Affen von den Besuchern hinter der Glasscheibe abwenden und offenbar nicht „angestarrt“ werden wollen
Halten von Kleintieren wie Meerschweinchen und Kaninchen in kleinen Käfigen „in Einzelhaft“, obwohl sie soziale Wesen sind und die Gesellschaft von Artgenossen brauchen
Verwendung von Tieren wie zum Beispiel Affen, Elefanten oder Löwen für Aufführungen im Circus
Tierversuche insbesondere unter Inkaufnahme von Tierquälerei [54]
Die Vermenschlichung (Anthropomorphismus) von Tieren kann mit einer Missachtung ihrer natürlichen Bedürfnisse verbunden sein und bis hin zu einer Misshandlung reichen.
Werden Haustiere zum Beispiel in Tiermode gekleidet oder stundenlangen Pediküren und Haarschnitten bei Hundefriseuren ausgesetzt, mag das von ihren Haltern zwar gut gemeint sein.
Die Frage ist, ob so eine Vermenschlichung den natürlichen Bedürfnissen der Tiere entsprechen kann.
Foto: Verkleideter weißer Terrier am Fasching *
Eine ähnliche Problematik von Vermenschlichung liegt vor, wenn
Haustierhalter von ihren Haustieren erwarten, dass sie wie Menschen
reagieren oder Dinge verstehen, die sie nicht verstehen können.
Behandelt man Tiere so wie Menschen, können außerdem natürliche Anzeichen von Angst und Stress der Tiere nicht erkannt und ihre Reaktionen darauf fehlinterpretiert werden.
Wie man es dreht und wendet: Haustiere sind keine Menschen und Tierhalter können einer Selbsttäuschung unterliegen, wenn sie bei Tieren menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten vermuten.
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Literaturangaben und Anmerkungen:
[1] Teutsch, G.M. (1985), Lexikon der Umweltethik, Düsseldorf, S.83.
[2] Ebenda, S.83.
[3] Ebenda, S.84.
[4] Ebenda, S.84.
[5] Ebenda, S.84.
[6] Margreiter, Reinhard (2016): Die Tiere in der antiken Philosophie, S.7, erschienen in: Ringvorlesung „Human-Animal Studies – Das Mensch-Tier-Verhältnis im Fokus wissenschaftlicher Forschung“ (WS 2016/2017), Universität Innsbruck
[7] Ebenda, S.12/13.
[8] Ebenda, S.13/14.
Anmerkung: Plutarch beschäftigte sich in seiner „Moralia“, einer
Sammlung von etwa 70 Abhandlungen zu verschiedenen Themen, in folgenden
drei Abhandlungen mit Tieren:
De esu carnium (Über das Fleischessen)
De sollertia animalium (Über die Klugheit der Tiere)
Bruta animalia ratione uti (Vernunftgebrauch bei wilden Tieren)
In seinem Werk „De esu carnium“ wandte er sich mit sehr deutlichen Worten gegen das Essen von Fleisch:
„Du fragst mich, aus welchem Grunde wohl Pythagoras sich des Fleischessens enthalten habe: ich für meine Person aber wundere mich, welche Leidenschaft, welche Stimmung der Seele oder welcher Grund zuerst den Menschen mag verleitet haben, Blut mit dem Munde zu berühren und das Fleisch eines todten Thieres an seine Lippen zu bringen; wie er nur darauf verfallen ist, Leichname und Schattenbilder als Zusatz oder als Speise auf den Tisch zu setzen, und Glieder, die kurz vorher noch brüllten, schrieen, sich bewegten und sahen, zu verzehren; wie das Auge es nur aushielt, das arme Thier schlachten, abziehen und zerstücken zu sehen, wie die Nase den üblen Geruch davon vertragen konnte, und wie es den Gaumen nicht vor der Verunreinigung ekelte, fremde Geschwüre zu berührenden Eiter von tödtlichen Wunden anzunehmen.” (Übersetzung von Plutarchus, 1797, Moralia, S.488)
[9] Sen, Colleen Taylor: Jainism and Food, in: Thompson, Paul B./Kaplan, David M. (2014): Encyclopedia of Food and Agricultural Ethics, Springer Science+Business Media Dordrecht, S.1302.
[10] Ebenda, S.1297.
[11] Ebenda, S.1300.
[12] Ebenda, S.1299.
[13] Höffe, Otfried (1992): Lexikon der Ethik, 4. Auflage, Verlag C.H. Beck, München, S.285.
[14] Bentham, Jeremy: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, in: The Collected Works of Jeremy Bentham (1996), Hrsg. J. H. Burns/H.L.A. Hart, Oxford, S.282f.
[15] Ebenda, S.282f.
[16] Ebenda, S.282f.
[17] Ebenda, S.282f.
[18] Ebenda, S.282f.
Dort lautet das Original-Zitat von Jeremy Bentham, das bis heute in der
Tierethik und Tierrechtsbewegung Verwendung findet: „The question is
not, can they reason?, nor can they talk? but, can they suffer?“
[19] Bennett, Jonathan (2017): An Introduction to the Principles of Morals and Legislation – Jeremy Bentham, Chapter 17, Anmerkung 1, S.143.
[20] Anmerkung: Das erste Tierschutzgesetz in Großbritannien gegen
die grausame Tierquälerei von Rindern, Pferden und Schafen hatte den
Namen „Cruel Treatment of Cattle Act 1822“. Es wurde auch unter dem
Namen „Martins Act“ in Großbritannien bekannt, benannt nach dem
irischen Oberst, Politiker und Tierschutz-Aktivisten Richard Martin
(1754–1834).
Das vermutlich erste Tierschutzgesetz in der westlichen Welt wurde 1635 im
Parlament von Irland zum Schutz von Pferden und Schafen beschlossen. Es hatte den Namen „An Act against Plowing by the Tayle,
and pulling the Wooll off living Sheep“.
[21] Aschoff, Ludwig: Kurze Übersichtstabelle zur Geschichte der Medizin, neu durchgesehen und erweitert von Ernst Schwalbe, in: Schwalbe, Ernst (1909): Vorlesungen über Geschichte der Medizin, 2. Auflage, Verlag Gustav Fischer, Jena, S.168.
[22] Keil, Gundolf (2021): Robert Koch (1843–1910) – Ein Essay, in: Medizinhistorische Mitteilungen. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte und Fachprosaforschung. Band 36/37, S.73.
[23] Fritzsche, Karl (1970): Massentierhaltung und Veterinärmedizin, in: Zentralblatt für Veterinärmedizin, Reihe B, Band 17, Nr. 1, 13. Mai 2010, S.12–22.
[24] Anmerkung: Der Begriff „Massentierhaltung“ bezeichnet die massenhafte und industriell-technisierte Haltung von Tieren – meistens nur von einer einzigen Tierart – in beengten Käfigen, Ställen oder Hallen unter belastenden und meist nicht artgerechten Bedingungen für die Tiere. Alternative Begriffe sind auch intensive Tierhaltung, Intensivhaltung oder Intensivtierhaltung.
[25] Singer, Peter (1996): Animal Liberation – Die Befreiung der Tiere, zweite Auflage, Rowohlt Verlag, Hamburg, S.35f.
[26] Ebenda, S.46.
[27] Ebenda, S.46.
[28] Ebenda, S.54.
[29] Singer, Peter (2011): Praktische Ethik, Dritte Auflage, Cambridge University Press, Cambridge (England), S.50.
[30] Singer, Peter: Alle Tiere sind gleich, in: Krebs, Angelika (2016): Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion. 8. Auflage, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, S.19–20.
[31] Ryder, Richard D. (1970): Speciesism Again: The original leaflet, in: Critical Society. 1. Jahrgang, Nr. 2, 2010, S. 1–2.
[32] Singer, Peter (1996): Animal Liberation – Die Befreiung der Tiere, zweite Auflage, Rowohlt Verlag, Hamburg, S.137.
[33] Ebenda, S.83 und 104f.
[34] Ebenda, S.71f.
[35] Singer, Peter (1994) Praktische Ethik, 2. Auflage, S. 96f. (englischer Originaltitel: Practical Ethics)
[36] Singer, Peter (1996): Animal Liberation – Die Befreiung der Tiere, zweite Auflage, Hamburg, Rowohlt Verlag, S.260f.
[37] Regan, Tom (2016): Wie man Rechte für Tiere begründet, in: Krebs, Angelika (Hrsg.): Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion. 8. Auflage, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, S.43–44.
[38] Vgl. für diese Zusammenfassung Regan, Tom (1983): The Case for Animal Rights, University of California Press, Berkeley (Kalifornien, USA), S.57–66.
[39] Ebenda, S.57–66.
[40] Regan, Tom (2016): Wie man Rechte für Tiere begründet, in: Krebs, Angelika (Hrsg.): Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion. 8. Auflage, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, S.41.
[41] Ebenda, S.45–46.
[42] McCulloch, Steven Paul (2012): A Critique of FAWC’s Five Freedoms as a Framework for the Analysis of Animal Welfare, Royal Veterinary College, London, S.3.
[43] Report of the Technical Committee to Enquire into the Welfare of Animals kept under Intensive Livestock Husbandry Systems – Presented to Parliament by the Secretary of State for Scotland and the Minister of Agriculture, Fisheries and Food by Command of Her Majesty, December, 1965, S.13.
[44] Fries, Hans: Zitat, in: Treffpunkt Medienberatung [www.fvgnet.de], https://www.fvgnet.de/produktionsleiter-filmproduzent/#zitate, abgerufen am 21.04.2025
[45] Wylde, Michael (2017): The Inca dogs and their ancestors, Dissertation, University of Florida, S.72/73.
Anmerkung: Das belegen etwa tausend Jahre alte Grab-Funde in Peru
südöstlich von Lima in der Nähe der Hafenstadt Ilo. Die Friedhöfe sollen
vom Volk der Chiribaya stammen, das von 900 bis 1350 nach Christus im
Osmore-Tal lebte. Dort haben Forscher in Gräbern und Grabstätten 43 Hunde entdeckt,
die damals in Peru vermutlich als Wachhunde zum Schutz von Lama-Herden
und sie begleitende Kinder vor Raubtieren eingesetzt wurden, und
kleineren Golden Retriever ähnelten. Ihre Mumifizierung, Einhüllung in Decken,
die Beigaben von Futter-Leckerlis sowie der Umstand, dass die Hunde
teilweise eigene Gräber hatten, lässt darauf schließen, dass sie nicht
geopfert, sondern für ihre familiären Dienste geehrt worden sind.
[46] Baales, Michael/Street, Martin (1998): Late Palaeolithic Backed Point assemblages in the northern Rhineland: current research and changing views, in: Notae Praehistoricae. 18, S.77–92.
[47] Meyer-Glitza, Patrick (2019): Rinderhaltung ohne Schlachtung als Agrar-Care-System – Fallbeispiele aus Europa und Indien, Dissertation, Lebenswissenschaftliche Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, S.22.
[48] Khanna, Sujoy/Gandhi, Maneka Sanjay/Awasthi, Meenakshi (2017): Gaushala, People for Animals, New Delhi, S.1.
[49] Lodrick, Deryck. O. (1981): Sacred Cows, Sacred Places – Origins and Survivals of Animal Homes in India, University of California Press, Berkeley, USA, S.59 ff.
[50] Dr. Khanna, Sujoy/Gandhi, Maneka Sanjay/Awasthi, Meenakshi (2017): Gaushala, People for Animals, New Delhi, S.1.
[51] Ebenda, Vorwort von Maneka Sanjay Gandhi.
[52] Infobrief März 2013 der Tierschutz-Organisation Animals‘ Angels, S.6.
[53] Anmerkung: Laut Schätzungen werden jährlich etwa 300.000 Tiere in deutschen Tierheimen aufgenommen, die meisten in den Sommermonaten wie einschlägige Pressemeldungen jedes Jahr zeigen. Dabei handelt es sich überwiegend um Kleintiere wie Hunde, Katzen, Kaninchen und Meerschweinchen.
[54] Vgl. hierzu die Webadressen zum » tierfreundlichen Einkaufen von Produkten und Kosmetik, hergestellt ohne Tierversuche.
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