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Holistische/Ökozentrische Umweltethik (Holismus, Ökozentrismus, Naturethik)

Was spricht für eine holistische oder ökozentrische Umweltethik (Naturethik)? Welche Probleme ergeben sich bei der Definition und Umsetzung der Ethik des Holismus bzw. Ökozentrismus (Ökozentrik)? [1]

INHALT

Definition und Erklärung

Die holistische Umweltethik, abgeleitet vom griechischen Wort „holos“ für „ganz“, ist die umfassendste aller Umweltethiken. Sie geht über die biozentrische Umweltethik hinaus, indem sie nicht nur allen Lebewesen, sondern auch unbelebter Materie Rechte zugesteht.[2]

Im Gegensatz zur anthropozentrischen Sichtweise, die den Menschen als Maßstab aller Dinge betrachtet, steht der Mensch nicht mehr im Mittelpunkt der Natur, sondern wird als ein Teil von ihr gesehen.

Auch leidensfähige Lebewesen, wie in der pathozentrischen Umweltethik, oder alle Lebewesen wie in der biozentrischen Umweltethik, sind nicht mehr der Maßstab aller Dinge. Stattdessen ist die Natur als Ganzes der Maßstab aller Dinge. Entscheidend ist, was der Natur als Ganzes nützt und nicht nur bestimmten Lebewesen.

Alles, was überhaupt existiert, hat ein Recht darauf, fortzubestehen. Dies gilt für alle Bestandteile der Natur, sowohl für die gesamte belebte als auch die unbelebte Natur, einschließlich Landschaften mit ihren Ökosystemen.

Die belebte Natur umfasst Menschen, Tiere, Pflanzen, Pilze und Mikroorganismen wie Bakterien und Archaeen. Die unbelebte Natur hingegen umfasst Kristalle, Luft, Metalle, Mineralien, Sand, Steine und Wasser.

Zu den Ökosystemen, die holistisch relevant sind, gehören Auen, Fjorde, Gebirge, Gewässer, Grasland, Korallenriffe, Moore, Savannen, Seegraswiesen (Unterwasserwiesen), Steppen, Tundren, Wälder und Wüsten.

Eine ganzheitliche Naturethik, die allen Bestandteilen der Natur eine eigenständige Bedeutung zuspricht, bedeutet jedoch keineswegs, dass alles in der Natur gleich behandelt werden muss.

Die holistische Umweltethik verlangt keine absolute Gleichbehandlung von belebter und unbelebter Materie; sie betont jedoch, dass auch unbelebte (anorganische) Elemente nicht unberücksichtigt bleiben sollten.[3]

Nicht holistische Umweltethiken konzentrieren sich stets auf bestimmte Teile der Natur. Der Anthropozentrismus konzentriert sich auf den Menschen, der Pathozentrismus auf alles Leidensfähige und der Biozentrismus auf alles Lebende.

Im Gegensatz dazu geht die holistische Umweltethik von einer ganzheitlichen Sichtweise der Dinge aus, die die Wichtigkeit der Teile für das Ganze betont; alles hängt mit allem zusammen .[4]

Im Anthropozentrismus erfolgt Naturschutz, wenn er menschlichen Interessen dient, wie beispielsweise dem Erhalt nicht erneuerbarer Rohstoffe, Nahrungsmittelquellen oder der Artenvielfalt (als Teil der Biodiversität).

Im Holismus (Ökozentrismus) hingegen erfolgt Naturschutz unabhängig von menschlichen Interessen und menschlicher Wertschätzung, da der Natur ein Selbstwert (ein inhärenter Wert) zugesprochen wird.

Mit anderen Worten, die holistische Umweltethik ist eine Naturphilosophie, die sich mit dem angemessenen und guten Umgang mit der Natur beschäftigt.

Umsetzung am Beispiel der Rede von Indianerhäuptling Noah Seattle

Das Naturverständnis bestimmter Indianerstämme, die vor der Eroberung des nordamerikanischen Kontinents durch weiße Siedler in Harmonie mit der Natur lebten, kann als praktische Umsetzung einer holistischen Lebensform verstanden werden:

Im Jahr 1855 unterbreitete Franklin Pierce, der 14. Präsident der Vereinigten Staaten, den Duwamish und Suquamish, zwei Indianervölkern im heutigen Bundesstaat Washington, das Angebot, ihr Land weißen Siedlern zu verkaufen und sich in ein Reservat zurückzuziehen.[5]

Häuptling Chief Seattle um das Jahr 1860
Häuptling Chief Seattle um das Jahr 1860

Glaubt man den Überlieferungen, war den Indianern diese Vorstellung seinerzeit fremd. Sie verstanden nicht, wie man Land kaufen und verkaufen kann.

Entsprechend soll Noah Seattle (1786–1866), auch Chief Seattle, der damalige Häuptling der Duwamish, in seiner Rede an den „großen Häuptling der Weißen“ seine Verwunderung zum Ausdruck gebracht haben:

„Wenn wir die Frische der Luft und das Glitzern des Wassers nicht besitzen – wie könnt ihr sie dann von uns kaufen? [...] Wir sind ein Teil der Erde, und sie ist ein Teil von uns“.[6]

Die Indianer hatten Ehrfurcht vor der gesamten Natur; sowohl vor der belebten als auch vor der unbelebten. Für sie war jeder Teil der Erde heilig, „jede glitzernde Tannennadel, jeder sandige Strand, jeder Nebel in den dunklen Wäldern, jedes summende Insekt“.[7]

Die Duwamish-Indianer teilten eine holistische Umweltethik, wonach Menschen, Tiere, Pflanzen und unbelebte Natur auf einer Stufe stehen:

„Die duftenden Blumen sind unsere Schwestern. Die Rehe, das Pferd, der große Adler sind unsere Brüder. Die felsigen Höhen, die saftigen Wiesen, die Körperwärme des Ponys und des Menschen – sie alle gehören zur gleichen Familie. [...] Die Flüsse sind unsere Brüder und eure – ihr müsst den Flüssen eure Güte geben, so wie jedem anderen Bruder auch“.[8]

In seiner Rede an den amerikanischen Präsidenten verdeutlichte Häuptling Chief Seattle, dass die Indianer keine anthropozentrische Sichtweise vertraten, wonach die Menschen im Mittelpunkt der Natur stehen.

Vielmehr folgten sie einem Holismus, der die Menschen als Teil der Natur versteht und sie dieser unterordnet:

„Denn das wissen wir, die Erde gehört nicht den Menschen, der Mensch gehört zur Erde – das wissen wir“.[9]

Häuptling Seattle richtete auch eine eindringliche Warnung an die Weißen, die heute aktueller denn je ist:

„Was die Erde befällt, befällt auch die Söhne der Erde. Was immer den Tieren geschieht, geschieht bald auch dem Menschen. Alle Dinge sind miteinander verbunden. Was der Mensch der Erde antut, tut er sich selbst an“.[10]

Die Denkweise der Weißen gänzlich nicht verstehend, äußerte sich Häuptling Seattle nachdenklich:

„Vielleicht könnten wir euch verstehen, wenn wir wüssten, wovon ihr träumt“.[11]

Aus der Rede von Noah Seattle an den Präsidenten der Vereinigten Staaten ließe sich aus umweltethischer Sichtweise das folgende Resümee ziehen:

Es scheint, dass in den USA die Anthropozentriker die Holistiker verdrängt haben. Oder anders ausgedrückt: Ein real gelebter Holismus wurde durch einen Anthropozentrismus ersetzt.

Probleme der praktischen Umsetzung

Die Anwendung einer holistischen Umweltethik zur Verbesserung des Naturschutzes ist in der Praxis mit diversen Problemen und Herausforderungen verbunden, die im Folgenden erörtert werden.

Interessenkonflikte

Wie bei der pathozentrischen und biozentrischen Umweltethik entstehen auch bei der holistischen Umweltethik Interessenkonflikte, wenn es darum geht, menschliche Interessen mit nichtmenschlichen Interessen in Einklang zu bringen.

Im Holismus (Ökozentrismus) treten diese Probleme besonders deutlich hervor, da im Vergleich zu den anderen umweltethischen Ansätzen die meisten Interessen gegeneinander abgewogen werden müssen.

Bereits vom Anthropozentrismus, über den Pathozentrismus bis hin zum Biozentrismus wird es zunehmend schwieriger, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, ohne dabei die Interessen anderer Lebewesen zu beeinträchtigen.

Am schwierigsten ist die menschliche Bedürfnisbefriedigung im Holismus zu realisieren, da zusätzlich zu den Interessen anderer Lebewesen auch die Interessen der unbelebten Natur und von Ökosystemen zu berücksichtigen sind.

Soll eine holistische Umweltethik praktisch umgesetzt werden, stünde in einer kritischen Gegenüberstellung verschiedener Interessen nicht nur eine naturbelastende Lebensweise der Menschen unter Kritik.

Auch große Tiere wie Elefanten oder Büffel, die bei ihren Bewegungen in der Natur unweigerlich zahlreiche Pflanzen und Kleinstlebewesen beeinträchtigen, könnten Gegenstand der holistischen Kritik sein.

Dasselbe gilt für Parasiten wie den Borkenkäfer (Buchdrucker), der ganze Fichtenwälder vernichten kann.

Interessenskonflikte können auch durch die Naturzerstörung entstehen, die übermäßige Pflanzenfresser wie Kaninchen und Kängurus verursachen, indem sie ganze Landstriche kahlfressen.

Unklarer Bezugspunkt

Um die Schäden, die Lebewesen in der Natur verursachen, mit den Schäden, die andere Lebewesen verursachen, vergleichen zu können, müsste ein „idealer Zustand“ der Erde als Bezugspunkt definiert werden.

Eine solche Definition eines Bezugspunktes ist jedoch nicht möglich, da sich die Erde in einem ständigen Wandel befindet, der unabhängig von den auf ihr existierenden Lebewesen stattfindet.

Beispiele für diesen Wandel sind tektonische Plattenverschiebungen, klimatische Veränderungen oder Naturkatastrophen wie Dürren, Erdbeben, Erdrutsche, Lawinen, Hurrikanes, Taifune, starke Niederschläge mit Hagel und Hochwasser, Überschwemmungen, Tsunamis, Waldbrände oder Vulkanausbrüche.

Die Erde befindet sich dadurch in einer dynamischen Weiterentwicklung und ist ständigen naturbedingten Veränderungen ausgesetzt, weshalb sich ihre präzise zukünftige Ausgestaltung nicht vorhersagen lässt.

Selbst wenn es einen „idealen Zustand“ der Erde mit einer größeren Artenvielfalt als heute gäbe, wären bereits ausgestorbene Pflanzen- und Tierarten unwiderruflich verloren.

Ein vergangener „idealer“ Zustand kann nicht wiederhergestellt werden, unabhängig davon, ob Pflanzen- und Tierarten durch die natürliche Evolution oder die Lebensweise der Menschen ausgestorben sind.

Um in der holistischen Umweltethik die Schäden, die verschiedene Lebewesen in der Natur verursachen, miteinander zu vergleichen, kann sich der Mensch nur am gegenwärtigen Entwicklungsstand der Erde orientieren.

Defizite der Neutralität und Stellvertretung

Bei der praktischen Umsetzung einer holistischen Umweltethik, die die Interessen der Natur berücksichtigt, werden unweigerlich Defizite in Bezug auf die Neutralität und Vertretung zutage treten.

Die Natur kann genauso wenig wie Pflanzen und Tiere ihre Interessen selbst formulieren. Deshalb benötigt sie Stellvertreter, die ihre Interessen erkennen, zur Sprache bringen und letztendlich durchsetzen.

Nur Menschen können diese Rolle der Stellvertretung für die Natur übernehmen, da sie die einzigen Lebewesen sind, die über das für eine Stellvertretung erforderliche Denkvermögen und Urteilsvermögen verfügen.

In Situationen, in denen die Interessen der Natur in Konkurrenz zu den Einzelinteressen von Menschen, Tieren, Pflanzen, Pilzen und Mikroorganismen stehen, müssen die Interessen der Natur gegen die Einzelinteressen dieser Lebewesen abgewogen werden.

Das bedeutet, dass vor dieser Abwägung nur Menschen stellvertretend die Interessen der Natur formulieren können, und nach dieser Abwägung nur Menschen diese Interessen durchsetzen können.

Da Menschen ihren Interessen im Vergleich zu den Interessen der Natur erwartungsgemäß ein höheres Gewicht beimessen, werden die Interessen der Menschen wahrscheinlich überwiegen.

Dieser Mangel an Neutralität zeigt sich auch, wenn es darum geht, dass Menschen die Interessen aller leidensfähigen Lebewesen im Pathozentrismus oder die Interessen aller Lebewesen im Biozentrismus gegen ihre eigenen abwägen sollen.

Daher besteht das Problem, dass die Abwägungen aller Interessen in der holistischen Umweltethik anthropozentrisch bestimmt sein werden, da nur Menschen diese Abwägungen vornehmen können.

Noch ist unklar, wie sich in der Praxis die Interessen der Natur durchsetzen lassen und wie die Natur ihrerseits Pflichten wahrnehmen kann, wenn man dem Leitsatz „Wo es Rechte gibt, muss es auch Pflichten geben“ folgt.

Diese und weitere Problemstellungen, die alle Umweltethiken jenseits der anthropozentrischen Umweltethik betreffen, werden in der Diskussion des Physiozentrismus erläutert.

Ungeklärte Reichweite – Die kosmozentrische Umweltethik (Kosmozentrismus)

Ein ganzheitlicher Ansatz der holistischen (ökozentrischen) Umweltethik wirft die Frage auf, ob sich ihre räumliche Reichweite nur auf die Erde beschränken oder sich auf das gesamte Weltall erstrecken soll.

Der Begriff „Kosmozentrismus“, abgeleitet vom griechischen Wort „kosmos“ für „Weltordnung“ und in der Moderne mit „das Weltall oder das Universum“ übersetzt, steht für die letztere Perspektive.

In einer kosmozentrischen Umweltethik besitzen neben belebter und unbelebter Natur auf der Erde auch der gesamte Kosmos (der den Menschen bekannte Teil des Universums) eigenständige Rechte.

Die kosmozentrische Umweltethik geht über die holistische Umweltethik hinaus, da sie nicht nur die gesamte Schöpfung auf der Erde, sondern auch den Weltraum, dessen Teil die Erde ist, einbezieht.

Kosmozentrismus ist in der Ethik nicht nur eine Theorie ohne Praxisbezug, da bei der Erforschung und Nutzung des Weltraums und anderer Planeten Weltraummüll entsteht.

Zu diesem Weltraummüll zählen beispielsweise ausgediente Weltraumstationen und Satelliten sowie Objekte von Raumfahrtmissionen wie Raumsonden, abgesprengte Raketenstufen, Verkleidungen und Trägerraketen.


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Literaturangaben und Anmerkungen

[1] Anmerkung: Allgemein wird Holismus oder Holistik in der Philosophie als eine Sichtweise verstanden, nach der das Ganze mehr ist als die Summe der Eigenschaften seiner einzelnen Teile.

Weitere Fragestellungen, die in der holistischen Umweltethik beantwortet werden, sind beispielsweise: Was bedeuten die Begriffe „holistisch“ (englisch: holistic), „ökozentrisch“ (englisch: ecocentric) oder „kosmozentrisch“ (englisch: cosmocentric)? Besitzt die Natur einen Eigenwert? Was versteht man unter Holismus, Ökozentrismus oder Kosmozentrismus in der Ethik?

[2] Teutsch, Gotthard M. (1985), Lexikon der Umweltethik, Vandenhoeck und Ruprecht Verlag, Düsseldorf, S. 46.

[3] Ebenda. S. 46.

[4] Ebenda, S. 46–47.

[5] Seattle (1855), in: Wir sind ein Teil der Erde – Die Rede des Häuptlings Seattle an den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika im Jahre 1855, in: Walter-Verlag (1986), Olten (Schweiz) und Freiburg im Breisgau (Bundesrepublik Deutschland), S. 5.

[6] Ebenda, S. 10.

[7] Ebenda, S. 10.

[8] Ebenda, S. 10/11/16.

[9] Ebenda, S. 25.

[10] Ebenda, S. 24.

[11] Ebenda, S. 16.

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