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Anthropozentrische Umweltethik (Anthropozentrismus, Anthropozentrik)

Was ist eine anthropozentrische Umweltethik? Welche Probleme ergeben sich beim anthropozentrischen Weltbild? Was ist der Unterschied zwischen Anthropozentrismus und Pathozentrismus?


INHALT

  1. Definition und Erklärung

  2. Argumente von Befürwortern und Gegnern

  3. Was ist das Gegenteil von anthropozentrisch?

  4. Beispiele für Probleme der praktischen Anwendung

  5. Ethisches Verbot von Tierquälerei nach Immanuel Kant

  6. Fehlende Generationengerechtigkeit

  7. Erweiterung um intergenerative Gerechtigkeit nach John Rawls

  8. Resümee mit Unterteilung und Arten

Definition und Erklärung

Nach dem anthropozentrischen Weltbild (von griechisch anthropos = Mensch und lateinisch centrum = Mittelpunkt) besitzen Tiere, Pflanzen und unbelebte Materie keinen eigenständigen Wert und existieren lediglich zum Nutzen der Menschen.[1]

Ihren Ursprung hat die anthropozentrische Umweltethik in der Antike bei den beiden griechischen Philosophen Protagoras (490 v. Chr. - 411 v. Chr.) und Aristoteles (384 v. Chr. - 322 v. Chr.).

Büste von Aristoteles
 Büste von Aristoteles

Auf Protagoras zurückgehend, sind die Menschen das Maß aller Dinge, sie sind das Zentrum und Ziel der Schöpfung, alles dient ihren Zwecken, alles ist nur Mittel für sie.[2]

Aristoteles hat diesen Standpunkt konkretisiert. Ihm zufolge existieren Pflanzen, um Menschen und Tieren zu dienen, während Tiere ausschließlich den Menschen zu dienen:

Haustiere ernähren die Menschen und leisten ihnen Dienste, und die meisten Wildtiere dienen den Menschen als Nahrung und zur Herstellung von Kleidung und Werkzeugen.[3]

Nach dem anthropozentrischen Weltbild dient die gesamte unbelebte Natur und die gesamte nichtmenschlich belebte Natur den Menschen zu ihren Zwecken.

Sei es als Lebensgrundlage in Form von Luft, Wasser, Nahrungsmitteln und Rohstoffen. Sei es als Quelle für Erholung und Freizeit. Oder zur Schadstoffaufnahme und Schadstoffreinigung.

Jede Veränderung und Ausbeutung der Natur, die den Menschen dient, ist ethisch gerechtfertigt; bereits die bloße Zugehörigkeit zur Spezies „Mensch“ wird mit einem exklusiven Status verbunden.[4]

Der Mensch hat eine indirekte Verpflichtung gegenüber nichtmenschlichen Lebewesen und der unbelebten Natur. Eine „Pflicht“ sie zu schützen, besteht nur, wenn sich ansonsten ein Nutzenverlust für die Menschen ergibt.

Im anthropozentrischen Weltbild können sich ethische Fragen nur im Verhältnis von Mensch zu Mensch stellen.

Argumente von Vertretern und Gegnern

Vertreter des anthropozentrischen Ansatzes argumentieren, dass sich die Menschen im oft grausamen Überlebenskampf der Arten im Einklang mit der Natur verhalten würden, wenn sie mit Hilfe ihrer besonderen Fähigkeiten andere Arten verdrängen.[5]

Nach diesem Weltbild sprechen folglich keine Argumente dagegen, wenn Naturschutz nur wegen der Menschen betrieben wird.

Gegner des anthropozentrischen Ansatzes argumentieren, dass die Menschen im Unterschied zu weniger entwickelten Lebewesen


Das Lexikon der Umweltethik fasst die Kritik am Anthropozentrismus wie folgt zusammen:


„Hintergrund dieses Welt- und Menschenbildes ist eine den historischen Humanismus missverstehende und den Menschen maßlos überschätzende Sichtweise, nach der die Natur zur bloßen Umwelt des Menschen wird.“

(Gotthard Martin Teutsch, 1918–2009, deutscher Philosoph, Tierethiker, Soziologe und Hochschullehrer) [7]

Was ist das Gegenteil von anthropozentrisch?

Das Gegenteil zur anthropozentrischen Umweltethik ist die holistische (ökozentrische) Umweltethik. Dieser Ansatz hebt die Sonderstellung der Menschen vollständig auf:

In der holistischen (ökozentrischen) Umweltethik werden der unbelebten Natur und allen Lebewesen – von Algen und Archaeen, Bakterien über Pflanzen und Pilze bis hin zu Tieren – eigene Rechte zugesprochen.

Im Unterschied dazu werden bei der biozentrischen Umweltethik nur allen Lebewesen und bei der pathozentrischen Umweltethik nur allen leidensfähigen Lebewesen eigenständige Rechte zugsprochen.

Daher stellen Biozentrismus und Pathozentrismus noch nicht das Gegenteil zum Anthropozentrismus dar. Erst der ganzheitliche Ansatz des Holismus (Ökozentrismus) räumt der Natur eigenständige Rechte ein.

Beispiele für Probleme der praktischen Anwendung

Die praktische Anwendung einer anthropozentrischen Umweltethik kann mit verschiedenen Problemen verbunden sein, wie die folgenden Beispiele verdeutlichen.

Begrenzte Erkenntnisfähigkeit des Menschen

Um zu beurteilen, welche Bestandteile der Natur ihnen von Nutzen sind, müssten die Menschen alle Wirkungszusammenhänge in der Natur verstehen können und somit über eine unbegrenzte Erkenntnisfähigkeit verfügen.

Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Menschheit mit ihrem heutigem Wissensstand mit Sicherheit feststellen kann, welche Pflanzen- und Tierarten sie für ihr Überleben benötigt und auf welche sie verzichten kann.

Bislang wurden etwa 1,8 Millionen Arten von Pflanzen, Pilzen und Tieren erforscht, wobei Schätzungen davon ausgehen, dass auf der Erde etwa 8,7 Millionen Arten leben.[8]

Die größte Artenvielfalt von Pflanzen und Tieren Erde wird im tropischen Regenwald vermutet.[9]


Luftaufnahme vom Regenwald in Brasilien am Amazonas in der Nähe der Stadt Barcelos
Foto: Regenwald in Brasilien am Amazonas in der Nähe der Stadt Barcelos


Der Verlust bestimmter Tier- und Pflanzenarten lässt sich aus anthropozentrischer Sicht nicht bestimmen, insbesondere nicht der Verlust an Artenvielfalt in den tropischen Regenwäldern, da deren Bedeutung für die Menschheit noch nicht gänzlich erforscht wurde.

Selbst wenn bestimmte Tier- und Pflanzenarten als „erforscht“ gelten, spiegeln Forschungsergebnisse stets nur den Stand der gegenwärtig verfügbaren Untersuchungsmethoden wider.

Zukünftige, präzisere Untersuchungsmethoden könnten den Verlust bestimmter Tier- und Pflanzenarten für die Menschheit in einem anderen Licht erscheinen lassen.

Um den Wert aller Tier- und Pflanzenarten für die Menschheit vollständig zu erfassen, müssten sämtliche Verbindungen zwischen ihnen bekannt sein.

Auch vermeintlich unwichtige Pflanzenarten müssen trotzdem geschützt werden, wenn sie die Nahrungsgrundlage von für Menschen wichtigen Tieren darstellen.

Allerdings sind die Zusammenhänge zwischen Pflanzen und Tieren nicht immer leicht zu durchblicken.

Angenommen, die Menschheit ist auf eine Tierart A angewiesen, die sich von einer Pflanzenart A ernährt, die wiederum von einer Tierart B bestäubt wird, die sich von einer Pflanzenart B ernährt. Um die Tierart A für die Menschheit zu erhalten, müssen somit auch Tierart B und die Pflanzenarten A und B erhalten werden.

Wie viele derartiger Zusammenhänge zwischen Pflanzen und Tieren wären zu berücksichtigen, um der Komplexität der Natur gerecht zu werden? Und reicht die menschliche Erkenntnisfähigkeit dafür aus?

Dieses einfache Beispiel verdeutlicht, dass eine anthropozentrische Umweltethik, in der sich die Existenzberechtigung von Tieren und Pflanzen nach ihrem Nutzen für die Menschheit bestimmt, ein umfassendes Wissen über ökologische Wechselbeziehungen voraussetzt.

Darüber hinaus erfordert sie, dass bei jedem menschlichen Eingriff in die Natur alle Konsequenzen für Tier- und Pflanzenarten, die für die Menschheit als nützlich betrachtet werden, berücksichtigt werden.

Ob dies in der Praxis tatsächlich der Fall ist und realisierbar ist, kann bei den folgenden Eingriffen in die Natur bezweifelt werden, bei denen die Menschheit kontinuierlich eine unnatürliche Selektion von Pflanzen vornimmt:


In den genannten Bereichen werden bestimmte Pflanzen aus unterschiedlichsten Gründen als „Unkraut“ eingestuft und mithilfe chemischer Pflanzenvernichtungsmittel bekämpft.

Die willkürliche Einstufung von Pflanzen als „Unkraut“ und der Einsatz von Pestiziden hat beispielsweise in der konventionellen Landwirtschaft geführt, dass Ackerunkräuter wie Acker-Rittersporn, Venus-Frauenspiegel oder Kornblume zunehmend seltener werden.

Dabei sind viele „Unkräuter“ nützliche Heilpflanzen oder wohlschmeckende Küchenkräuter, deren Eigenschaften und möglicher Nutzen der Menschheit noch nicht vollständig erforscht sind.

Ein anthropozentrisches Weltbild, das die Menschen dazu veranlasst, Pflanzen und Tiere, die sie als vermeintlich nutzlos erachten, zu bekämpfen, kann daher bedrohlich für die Artenvielfalt sein.

Sollte sich erst im Nachhinein, wenn die bekämpften Tier- und Pflanzenarten ausgestorben sind, herausstellen, dass sie wertvoll für die Menschheit waren, kann ein anthropozentrisches Weltbild auch bedrohlich für die Lebensgrundlage künftiger Generationen sein.

Aus der beschränkten menschlichen Erkenntnisfähigkeit ergibt sich die Frage, ob eine anthropozentrische Umweltethik in der Praxis überhaupt schlüssig umsetzbar ist.

Unklare geografische Dimension

Die geografische Dimension in der Definition des anthropozentrischen Ansatzes nach Protagoras, wonach der Mensch das Maß aller Dinge ist, ist unklar.

Es stellt sich die Frage, wer geografisch die Adressaten dieser Ethik sind. Bezieht sich diese Aussage nur auf die Menschen in Industrieländern oder auf alle Menschen auf der Erde?

Das Wohlstandsgefälle zwischen nördlicher und südlicher Erdhalbkugel deutet stark darauf hin, dass weltweit keine anthropozentrische Umweltethik zur Anwendung kommt.

Denn die Armut im globalen Süden interessiert den reichen Norden relativ wenig. Selbst extreme Wohlstandsgefälle in Dritte-Welt-Ländern hindern international agierende Unternehmen nicht daran, dort Geschäfte zu tätigen, von denen letztendlich nur einem Bruchteil der dortigen Bevölkerung profitiert.

Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation zählen über eine Million Kinder in Brasilien, die von großer Armut betroffen sind, zu den Kleinwüchsigen, die später zu sog. „Homem Gabirus“ werden.[10]

Alternative Ausdrücke für „Homem Gabirus“ sind „Rattenmenschen“ oder „Garbage People“. Damit sind Menschen gemeint, die auf den Müllhalden der wachsenden Großstädte nach Essbarem suchen.

Fraglich ist zudem, ob folgende Beispiele mit einer globalen Anthropozentrik zu vereinbaren sind:


Die unklare geografische Dimension der anthropozentrischen Umweltethik zeigt somit bei der Frage, ob alle Menschen auf der Welt oder nur die Menschen in den reichen Industrieländern das Maß aller Dinge sind.

Unklare zeitliche Dimension

Die zeitliche Dimension in der Definition des anthropozentrischen Ansatzes nach Protagoras, wonach der Mensch das Maß aller Dinge ist, ist unklar.

Bezieht sich diese Aussage nur auf die Gegenwart oder auch auf zukünftige Generationen? Diese Frage stellt sich angesichts einer Wirtschafts- und Lebensweise der Menschheit, die folgende Auswirkungen hat:


Diese Wirtschafts- und Lebensweise gefährdet und zerstört die Natur auf Kosten nachfolgender Generationen.

Allerdings müsste bei einer konsequent angewendeten anthropozentrischen Umweltethik das Handeln der Menschen auch von den Interessen ihrer Nachkommen in der fernen Zukunft geleitet sein.

Vermutlich liegt das Problem darin, dass das Wohl der Urenkel aus heutiger Sicht in zu weiter Ferne liegt.

Es stellt sich die Frage, warum seit Generationen eine langfristig wirkende und zum Teil nicht umkehrbare Zerstörung der Natur zu beobachten ist, die das Wohl kommender Generationen unberücksichtigt lässt.

Eine mögliche Erklärung dafür könnte eine „biologische“ sein: Wer die eigenen Ururenkel nicht erlebt, wird auch nicht damit konfrontiert, ob und wie die Generation der Ururenkel die Umweltprobleme eines Tages lösen kann.

Die unklare zeitliche Dimension der anthropozentrischen Umweltethik zeigt sich zum Beispiel bei der Abholzung der tropischen Regenwälder, der Verschmutzung der Weltmeere und der Nutzung der Atomkraft.

1) Abholzung tropischer Regenwälder

Die Abholzung der tropischen Regenwälder hat in den letzten Jahrzehnten ein beispielloses Ausmaß erreicht und wirft die ethische Frage nach dem Stellenwert der medizinischen Versorgung künftiger Generationen auf.

Tropische Regenwälder erfüllen nicht nur eine globale Funktion als Sauerstofflieferant, Schadstofffilter und Wasserspeicher, sondern beherbergen auch die größte biologische Vielfalt (Biodiversität) auf der Erde:

In ihnen wird der größte Vorrat an genetischen Informationen vermutet, und Hunderte wichtiger Medikamente werden bereits heute aus ihnen gewonnen.[11]

So soll beispielsweise der US-amerikanische Präsident Ronald Reagan bereits 1981 sein Überleben nach einem Attentat u. a. einem Blutdruck stabilisierenden Medikament verdankt haben, das von einer Buschviper aus dem Amazonasgebiet stammte.[12]

Mit einer anthropozentrischen Umweltethik, die auch die Interessen künftiger Generationen berücksichtigt, ist die Abholzung tropischer Regenwälder somit nicht vereinbar (vgl. » Abholzung tropischer Regenwälder).

2) Verschmutzung der Ozeane

Die zunehmende Verschmutzung der Ozeane wirft ethische Fragen hinsichtlich des Stellenwerts der aktuellen und zukünftigen Nahrungsmittel- und Sauerstoffversorgung der Menschheit auf.

Die stetig zunehmende Menge an Plastikmüll in den Ozeanen führt dazu, dass über die Hochseefischerei zunehmend giftiges Nanoplastik und Mikroplastik in die menschliche Nahrungskette gelangen können.

Zudem wird Meerespflanzen durch herabsinkenden Plastikmüll zunehmend das Licht für die Photosynthese entzogen, was den Beitrag der Ozeane zur Sauerstoffproduktion auf der Erde zunehmend beeinträchtigt.

Mit einer anthropozentrischen Umweltethik, die die Interessen künftiger Generationen berücksichtigt, ist die Verschmutzung der Ozeane somit nicht vereinbar (vgl. » Verschmutzung der Weltmeere mit Plastik).

Erwähnenswert ist zudem, dass die Verschmutzung nicht nur für künftige Generationen, sondern auch für die aktuell lebende Menschheit eine Bedrohung darstellt.

Neben dem bereits erwähnten Plastikproblem sind zu nennen: Arzneimittel, organische Chemikalien (POPs), Öl, Radioaktivität und giftige Schwermetalle, insbesondere Blei, Cadmium und Quecksilber.

Diese Stoffe belasten alle Meeresbewohner und gelangen über die Hochseefischerei in die Nahrungskette.

Sollte diese Entwicklung nicht gestoppt werden können, droht der Verlust der Ozeane als Nahrungsgrundlage für Milliarden Menschen – sollten Fische so kontaminiert sein, dass sie nicht mehr essbar sind.


Mit Plastik-Müll verschmutzte Küste in der Provinz Bataan auf Luzon, der größten Insel der Philippinen im Pazifischen Ozean
Foto: Mit Plastik-Müll verschmutzte Küste in der Provinz Bataan auf Luzon, der größten Insel der Philippinen im Pazifischen Ozean

3) Nutzung der Atomtechnologie

Die Nutzung der Atomtechnologie wirft ethische Fragen hinsichtlich des Stellenwerts auf, den dem Erhalt einer nicht durch Menschen radioaktiv belasteten Natur für künftige Generationen beizumessen ist.

Erst die Nutzung der Atomtechnologie ermöglicht die Herstellung von Atomwaffen und schafft das Risiko gewaltsamer Angriffe auf Atomreaktoren.

Schon die Existenz und das Ausmaß dieser Risiken sollten einen Nutzungsverzicht rechtfertigen, selbst wenn Sicherheitsvorkehrungen noch so gut statistisch abgesichert sind. Radioaktiver Atommüll strahlt bekanntlich noch tausende Jahre lang.

Auch die neuesten Generationen von Atomreaktoren konnten diese Problematik bislang nicht lösen.

Kann bei der Endlagerung radioaktiver Abfälle wirklich Sicherheit für alle zukünftigen Generationen im Sinne einer anthropozentrischen Umweltethik garantiert werden?

Selbst wenn dies der Fall wäre, könnten sich zukünftige Generationen eine Welt wünschen, in der sie keine Sicherheitsmaßnahmen zur Endlagerung von strahlendem Atommüll treffen müssen.

Aus ethischer Sicht ist zu berücksichtigen, dass die Möglichkeit der Güterabwägung bei der Nutzung der Atomtechnologie immer die Gunst der früher geborenen Menschen ist und deren Interessen begünstigen wird.

Mit einer anthropozentrischen Umweltethik, die die Interessen künftiger Generationen berücksichtigt, ist die Nutzung der Atomtechnologie somit nicht vereinbar.

Wie kann eine Sonderstellung des Menschen begründet werden?

In einer kritischen Analyse des Modells der anthropozentrischen Umweltethik stellt sich die Frage, wie eine Sonderstellung des Menschen gegenüber Tieren begründet werden kann.

Begründungsansätze beziehen sich beispielsweise auf besondere Fähigkeiten der Menschen wie Sprache, Verstand und Vernunft oder ein Ich-Bewusstsein. Beide Ansätze werden nachfolgend beleuchtet.

Denk- und Sprachvermögen

Wird eine Sonderstellung der Menschen mit ihrem Denk- und Sprachvermögen gegenüber Tieren begründet, stellt sich die Frage, ob dieses tatsächlich oder potentiell vorhanden sein muss.

Bekanntlich sind höher entwickelte Säugetiere wie Wale, Affen oder Delfine – wenn sie ausgewachsen sind – neugeborenen Menschen in ihrem Denk- und Sprachvermögen überlegen.

Das weitaus komplexere Denk- und Sprachvermögen von Menschen entwickelt sich erst im Laufe der Jahre nach ihrer Geburt. Allerdings verfügen auch einige Tierarten über ein komplexeres Sprachvermögen:

Ausgewachsene Schimpansen können beispielsweise hunderte verschiedene Gesten der Zeichensprache erlernen oder mittels abstrakter, bunter Symbole kommunizieren.[13][14]

Oder Affen, Collies, Papageien, Tauben und Wellensittiche können sich hunderte Worte oder Symbole merken und diesen Gegenständen zuordnen.[15]

Darüber hinaus existieren Tierarten mit komplexen Denkfähigkeiten, die in der Lage sind, Aufgaben zu lösen, Werkzeuge zu benutzen oder mit anderen Tieren zusammenzuarbeiten und von ihnen zu lernen.

Zu den Tieren mit komplexen Denkfähigkeiten zählen nicht nur gemeinhin als intelligent angesehene Arten wie Delfine, Elefanten, Hunde, Katzen, Krähen, Menschenaffen oder Raben, sondern auch Tiere, denen man diese Denkleistung zunächst nicht zutrauen würde, wie Kraken, Krokodile, Schildkröten, Tauben oder Waschbären.[16]

Zweifellos können Tiere keine Opern komponieren, Maschinen konstruieren oder Bücher schreiben. Allerdings verfügen auch bei Weitem nicht alle Menschen über die dafür notwendigen Fähigkeiten.

Neben Babys und Kindern, deren Denk- und Sprachvermögen sowie Verstand noch nicht entwickelt sind, gilt dies auch bei Menschen, die unter erheblichen psychischen und physischen Einschränkungen leiden oder sich in einem dauerhaften Koma befinden.

Zu guter Letzt müsste ein Begründungsansatz, der überlegene Fähigkeiten zum Maßstab erklärt, ob Lebewesen eine Sonderstellung eingeräumt werden soll, nach dem Gleichheitsgrundsatz für alle Lebewesen gelten.

Dann würde sich jedoch die Frage ergeben, ob man Tierarten eine Sonderstellung einräumen müsste, deren Fähigkeiten und Sinne denen von Menschen in bestimmten Bereichen weit überlegen sind.

So verfügen Hunde über einen viel feineren Gehörsinn, Geruchssinn und Orientierungssinn als Menschen.

Katzen wiederum weisen gegenüber Menschen herausragende Fähigkeiten auf – alle in sich vereint – zu kriechen, zu springen, zu fallen, zu riechen, zu klettern, zu hören, zu sehen oder sich anzuschleichen.

Weitere tierische Überlegenheiten kommen in Redewendungen zum Ausdruck wie „Adleraugen haben“, „ein Gedächtnis wie ein Elefant haben“, „flink wie ein Wiesel sein“ oder „Augen und Ohren haben wie ein Luchs“.

Wie sich zeigt, lässt sich eine Sonderstellung der Menschen aufgrund einer Alleinstellung ihres Denk- und Sprachvermögens gegenüber Tieren nicht sachlich begründen.

Sie lässt sich nur damit begründen, dass – wie eingangs in der Definition der anthropozentrischen Umweltethik erläutert – bereits die bloße Zugehörigkeit zur Spezies „Mensch“ mit einem exklusiven Status verbunden wird.

Ich-Bewusstsein

Zur Beantwortung der Frage, ob Menschen aufgrund ihres Ich-Bewusstseins eine Sonderstellung gegenüber Tieren zusteht, können Forschungsergebnisse der Verhaltensbiologie herangezogen werden.

Dort werden beim sogenannten Spiegeltest Tiere beispielsweise mit einem Farbfleck auf ihrem Kopf oder Körper versehen, den sie nur erkennen können, wenn sie ihr Spiegelbild betrachten.[17]

Der Spiegeltest gilt als nicht bestanden, wenn die Tiere sich nicht selbst im Spiegel erkennen können.

Dies kann sich dadurch äußern, dass sie auf ihr Spiegelbild wie auf ein anderes Lebewesen mit Begrüßungsgesten, Drohgesten und Warnlauten reagieren oder dass sie ihr Spiegelbild ignorieren.

Der Spiegeltest gilt als bestanden, wenn die Tiere sich selbst im Spiegel erkennen können. Dies kann sich dadurch äußern, dass sie auf den Farbfleck auf ihrem Kopf deuten oder versuchen, diesen wegzuwischen.

Im Rückschluss müssen also Tiere, die den Spiegeltest bestehen, die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion haben. Ebenso ein Bewusstsein für das eigene Aussehen ohne Farbmarkierung.

Zu den Tieren, die den Spiegeltest bestehen, gehören Delfine und Wale, Putzerlippfische, Elefanten, Vögel wie Elstern, Papageien und Raben oder Menschenaffen wie Gorillas, Orang-Utans und Schimpansen.[17]

Bei Menschen können Kleinkinder den Spiegeltest üblicherweise ab einem Alter von 24 Monaten bestehen.[18]

Es ist jedoch unklar, aus welchen Gründen verschiedene Tierarten, die den Spiegeltest bestehen, den Farbfleck auf ihrem Kopf oder Körper entfernen:

Entfernen sie den Farbfleck, weil sie ihn für einen Parasiten halten oder weil er nicht zu ihrem Selbstbild passt?

Obgleich der Spiegeltest als ein Indikator für ein gewisses Maß an Selbstbewusstsein gilt, liefert er keine Auskunft darüber, ob Tiere, die ihn bestehen, deshalb auch reflektiert denken und handeln können.

Umgekehrt kann man aufgrund eines nicht bestandenen Spiegeltests bei Tieren nicht einfach davon ausgehen, dass die getesteten Tiere deshalb über kein Bewusstsein verfügen.

Eine derartige Schlussfolgerung würde die „Cambridge-Erklärung zum Bewusstsein“ vom Juli 2012 relativieren.

In dieser Erklärung fassen bedeutende Forscher aus der Neuroanatomie, Neuropharmakologie und Neurophysiologie ihre neuesten Forschungsergebnisse zusammen, wonach viele Tiere über ein Bewusstsein verfügen:


Die Cambridge-Erklärung zum Bewusstsein

Übereinstimmende Forschungsergebnisse liefern gute Gründe zu der Annahme, dass Tiere, darunter Säugetiere, Vögel, Insekten und wirbellose Weichtiere wie Oktopusse, über die neuroanatomischen, neurochemischen und neurophysiologischen Substrate des Bewusstseins verfügen.

Darüber hinaus weisen diese Tiere die Fähigkeit zu intentionalem Verhalten auf (was bedeutet, dass sie sich ihrer Handlungen und den potentiellen Auswirkungen ihrer Handlungen bewusst sind).

Diese Erkenntnisse deuten darauf hin, dass neuronale Substrate und das durch sie erzeugte Bewusstsein nicht nur beim Menschen, sondern auch bei vielen Tieren vorkommen.[19]


In der „New Yorker Erklärung zum Bewusstsein“ vom April 2024 wurde die Cambridge-Erklärung erweitert. Danach zeigen neue Forschungen, dass alle Wirbeltiere (einschließlich Amphibien, Fische und Reptilien) und viele wirbellose Tiere (einschließlich Insekten, Krebsen und Weichtiere) über ein Bewusstsein verfügen.[20]

Wie sich zeigt, lässt sich eine Sonderstellung der Menschen aufgrund eines Ich-Bewusstseins gegenüber Tieren ebenfalls nicht sachlich begründen.

Dient der Artenschutz primär menschlichen Interessen?

Eine noch ungeklärte Frage ist, ob Artenschutz den Tieren und Pflanzen oder primär der Menschheit dient.

Werden vom Aussterben bedrohte Tiere in Zoos gehalten, dient dies nicht nur dem Erhalt dieser Tierarten, sondern auch der Freude aktuell und künftig lebender Menschen an „exotischen“ Tieren.

Doch selbst wenn die Bedingungen in einem Zoo aus menschlicher Sicht noch so „gut“ sind, müsste ein natürlicher Lebensraum jenseits aller Gitterstäbe erhalten werden, in dem die bedrohten Tiere ein artgerechtes Leben führen können.

Und ginge es um den Erhalt aller vom Aussterben bedrohter Tiere, müssten auch alle vor dem Aussterben bedrohten Tiere in Zoos zu finden sein, was bei Weitem nicht der Fall ist.

So ergab beispielsweise der EU-Zoo-Report 2011, dass in 25 zufällig ausgewählten Zoos in der Bundesrepublik Deutschland von den dortigen Tierarten nur etwa 8 % gefährdet, 5 % stark gefährdet und 2 % vom Aussterben bedroht waren (gemäß der Roten Liste der Weltnaturschutzunion IUCN).[21]

Angesichts dessen scheint es eher so zu sein, dass die Menschen eine willkürliche Auswahl von „schützenswerten Tieren“ treffen. Der Betrieb von Zoos ist daher überwiegend anthropozentrisch geprägt.

Auch die folgenden beiden Naturschutzmaßnahmen dürften den künftigen Interessen und dem Selbstschutz der Menschen dienen und damit überwiegend anthropozentrisch geprägt sein:

So fungiert der Erhalt von Pflanzen und Tieren in den tropischen Regenwäldern als „genetische Reserve“ für die zukünftige Entwicklung von Medikamenten.

Oder der Erhalt einer möglichst großen Artenvielfalt trägt zu einer größeren Widerstandsfähigkeit von Nutzpflanzen gegenüber Umweltveränderungen und Schädlingen bei.

Denn mit jedem Aussterben einer Art geht auch genetische Substanz verloren, die im Laufe der künftigen Evolution für die Menschheit von Bedeutung sein könnte.

Obgleich dieses Wissen bekannt ist, wird es beispielsweise in der Landwirtschaft nicht konsequent berücksichtigt. Stattdessen setzt sich zunehmend die Praxis der Monokultur von wenigen Sorten durch.

Dies führt zu einem Rückgang der Bodenqualität, was wiederum die Anfälligkeit der Ernten für Pflanzenkrankheiten und Schädlingsbefall erhöht. Gleichzeitig geht das genetische Potential, das zur Bewältigung solcher Katastrophen beitragen könnte, verloren.

Bereits Anfang der 1980er Jahre wies die Studie „Global 2000“ darauf hin, dass die Wahrscheinlichkeit, gegen Schädlingsbefall resistente Pflanzenarten zu entdecken, umso höher ist, je mehr wilde Arten verfügbar sind.[22]

Erfolgt Artenschutz aus Gründen wie „Freude an seltenen Tieren“, „Widerstandsfähigkeit von Pflanzen“ oder „Erhalt einer genetischen Reserve“, bemisst sich der Wert von Tier- und Pflanzenarten an ihrem Nutzen für die Menschheit.

In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass in der Natur auch ein natürliches Artensterben stattfindet, das nicht durch die Menschen verursacht wird.

Aus diesem Grund bleibt es Aufgabe der Biologie und Ökologie, kontinuierlich zu untersuchen, welches Artensterben aus natürlichen, evolutionsbedingten Gründen stattfindet und welches menschengemacht ist.

Ethisches Verbot von Tierquälerei nach Immanuel Kant

Obwohl der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) ein Vertreter des Anthropozentrismus war, sprach er sich aus folgendem Grund für ein ethisches Verbot von Tierquälerei aus:

Durch die gewaltsame und zugleich grausame Behandlung von Tieren würde das Mitgefühl an ihrem Leiden im Menschen abstumpfen und dadurch auch nach und nach das Mitgefühl für andere Menschen.[23]

Die Grausamkeit der Menschen gegenüber Tieren in Form von Tierquälerei stünde somit konträr zur Pflicht der Menschen gegenüber sich selbst, ihrer eigenen Verrohung entgegenzuwirken.

Der deutsche Philosoph Immanuel Kant
     Immanuel Kant 1791

Immanuel Kant vertrat die Ansicht, dass Tierquälerei nicht aus Rücksicht auf das Leid von Tieren, sondern aus Rücksicht auf den Menschen unterlassen werden sollte.

Auch in der Dankbarkeit für die geleisteten Dienste eines Pferdes oder eines Hundes sah Immanuel Kant eine direkte Pflicht des Menschen gegenüber sich selbst.[24]

Obwohl Kant keinen empirischen Beweis für den von ihm dargelegten Zusammenhang geliefert hat, erscheint dieser naheliegend:

Denn ein Mensch, der dankbar für die Dienste seines alten Wachhundes ist und ihm ein Gnadenbrot gewährt, wird eher die Dienste seiner Mitmenschen zu schätzen wissen.

Es wäre nicht nachvollziehbar, warum jemand, der Tiere quält, ein besonders feinfühliger Mensch sein sollte.

Ausgehend von der Annahme, dass der menschliche Geist durch Grausamkeit gegenüber Tieren verroht, läge ein Verbot von Tierquälerei im Eigeninteresse der Menschen und wäre anthropozentrisch begründet.

Fehlende Generationengerechtigkeit

Die eingangs vorgestellte Definition einer anthropozentrischen Umweltethik enthält keinen Bezug auf die Frage der Generationengerechtigkeit, also der Gerechtigkeit zwischen den Generationen.

Generationengerechtigkeit oder intergenerative Gerechtigkeit (Enkelgerechtigkeit) beurteilt allgemein, ob menschliche Entscheidungen und Handlungen in einer Generation, die sich auf kommende Generationen auswirken, gerecht sind.

Diesen Gedanken greift auch das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung (Sustainable Development) auf.

Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.

Intergenerative Gerechtigkeit bedeutet im umweltethischen Zusammenhang, dass eine Generation der nachfolgenden Generation etwa gleiche natürliche Lebensbedingungen hinterlässt, bezogen auf die biologische Vielfalt, die Qualität von Luft, Wasser und Boden oder nicht erneuerbare Ressourcen.

Ob die natürlichen Lebensbedingungen von einer Generation zur nächsten etwa weitgehend konstant bleiben, lässt sich sinnvollerweise nur darauf beziehen, ob ihre Veränderung auf menschliche Eingriffe in die Natur zurückzuführen ist oder nicht auf natürlich ablaufende Vorgänge auf der Erde.

Beispiele für Veränderungen, die Menschen meist nicht beeinflussen können, sind Naturkatastrophen wie Erdbeben, Asteroideneinschläge, Überschwemmungen, Vulkanausbrüche, Waldbrände und Wirbelstürme oder Wetteranomalien wie Dürre, Hagel, Hitze und Kälte oder die Verschiebung von Kontinenten.

Die Notwendigkeit, den Ansatz der anthropozentrischen Umweltethik um Generationengerechtigkeit zu erweitern, ergibt sich aus zwei Gründen:

1.

Als Folge der marktwirtschaftlichen und industriellen Revolution, beginnend ab Mitte des 18. Jh. in England, wurde eine wirtschaftliche und technische Macht von nie gekannten Ausmaßen freigesetzt.

Die seither stattfindende Verschmutzung, Verstrahlung, Vergiftung und Zerstörung der Natur stellt eine langfristige Gefahr für die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit dar.

2.

Die eingangs definierte anthropozentrische Umweltethik hat ihre historischen Wurzeln in der Antike, einer Zeit weit vor Beginn der Industriellen Revolution.

Damals war es der Menschheit nicht möglich, Eingriffe in die Natur vorzunehmen, die die natürlichen Lebensbedingungen nachfolgender Generationen derart einschränken oder gar deren Überleben gefährden.

Dass sich antike Philosophen mit einem anthropozentrischen Weltbild, wie Protagoras oder Aristoteles, nicht die ethische Frage nach der Berücksichtigung der Interessen künftiger Generationen stellten, lässt sich zumindest teilweise damit erklären.

Denn in der Antike entwaldeten und verödeten Griechen und Römer durch ihren Schiffsbau ganze Küstenregionen des Mittelmeeres.

Bereits der antike griechische Philosoph Platon soll vor den schädlichen Folgen des Abholzens der attischen Berge für die Bodenbestände und Wasserversorgung Athens gewarnt haben.[25]

Erweiterung um intergenerative Gerechtigkeit nach John Rawls

Im Folgenden wird untersucht, ob sich der Ansatz der anthropozentrischen Umweltethik mit Hilfe der Gerechtigkeitstheorie des US-amerikanischen Philosophen John Rawls (1921–2002) um eine intergenerative Gerechtigkeit erweitern lässt.

Der US-amerikanische Philosoph John Rawls
 John Rawls 1971

John Rawls’ Standardwerk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ (englisch: „A Theory of Justice“) aus dem Jahre 1971 zählt zu einem der einflussreichsten Klassiker der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts.[26]

Darin stellt er ideale Abstimmungsbedingungen vor, unter denen freie und vernünftige Menschen gerechte Grundsätze einer Gesellschaftsordnung beschließen können.[27]

Bei dieser Abstimmung konkurrieren alle Teilnehmer um die gerechte Verteilung von gesellschaftlichen Gütern, die in begrenzter Menge vorhanden sind.[28]

Als Gedankenexperiment schlägt John Rawls vor, dass sich alle Teilnehmer der Abstimmung bei ihrer Entscheidung gedanklich hinter einem „Schleier des Nichtwissens“ über sich selbst befinden sollen.

Dieser Zustand der Gleichheit beseitigt alle Zufälligkeiten, die Menschen in ungleiche Situationen bringen (wie zum Beispiel ihr Alter oder Wohnort) und sie dazu veranlassen können, sich bei ihren Entscheidungen von eigenen statt gesellschaftlichen Vorteilen leiten zu lassen.[28]

Solange die Teilnehmer der Abstimmung nicht wissen, welche der zur Auswahl stehenden Grundsätze sich positiv für sie auswirken, müssen sie diese allein unter allgemeinen Gesichtspunkten beurteilen.[28]

Hinter dem Schleier des Nichtwissens können die Teilnehmer folgende Fragen nicht beantworten:


Würde man den Schleier der Unwissenheit um die Frage „Weiß ich, dass ich Mensch bin?“ erweitern, könnte sich das Gedankenexperiment von John Rawls auch zur Entwicklung von Gerechtigkeitsgrundsätzen eignen, die die Interessen von Tieren und Pflanzen berücksichtigen.

Da die Teilnehmer der Abstimmung im Zustand der Gleichheit nicht wissen, welcher Generation sie angehören, werden sie erwartungsgemäß über Fragen einer intergenerativen Gerechtigkeit nachdenken.[29]

Zum Beispiel über die Frage, ob und in welchem Umfang die natürliche Umwelt, die biologische Vielfalt und nicht erneuerbare Ressourcen erhalten bleiben sollen.

Weil der Schleier der Unwissenheit das Wissen aller Abstimmungsteilnehmer stark einschränkt, geht John Rawls davon aus, dass diese Grundsätze wählen müssen, deren Folgen sie bereit sind zu akzeptieren, unabhängig davon, welcher Generation sie selbst angehören.[29]

Das ist deshalb naheliegend, da die Teilnehmer Entscheidungen unter Unsicherheit treffen müssen, was sie zwingt, sich nicht egoistisch, sondern unparteiisch und neutral zu entscheiden.

Sie müssen damit rechnen, dass sie sich, wenn der „Schleier der Unwissenheit“ nach der Abstimmung wieder gelüftet wird, in einer im Vergleich zu vorherigen Generationen schlechter gestellten Generation befinden.

Um Risiken zu minimieren, haben alle Teilnehmer ein Interesse an Grundsätzen, die den intergenerativ am stärksten benachteiligten Generationen den größtmöglichen Vorteil verschaffen und den Nachteil der ungünstigsten Situation minimieren (Maximin-Prinzip).[30]

Angenommen, eine Abstimmung fände hinter dem Schleier der Unwissenheit über die Nutzung der Atomkraft, den Einsatz von Gentechnik, die Verschmutzung der Weltmeere oder die Abholzung der Regenwälder statt.

Welches Abstimmungsergebnis wäre zu erwarten? Es ist fraglich, ob langfristige Nachteile zugunsten kurzfristiger Vorteile bewusst in Kauf genommen würden, so wie es aktuell der Fall ist.

Natürlich lässt sich nicht vorhersagen, was künftigen Generationen wichtig sein wird.

Dennoch stellt sich die Frage, ob es ethisch begründbar ist, wenn die Menschheit risikobehaftete Technologien wie die Atomtechnik und Gentechnik oder globale Ökosysteme wie die Weltmeere oder Regenwälder nachteilig für nachfolgende Generationen nutzt.

Dabei spekuliert sie auf zukünftige Technologien und Möglichkeiten, die alle durch eine solche Nutzung hervorgerufenen künftigen Natur- und Umweltprobleme lösen können.

Gegen diesen optimistischen Fortschrittsglauben spricht, dass es keinen Beweis gibt, dass künftige Generationen rechtzeitig einen Weg finden werden, um die anstehenden Natur- und Umweltprobleme zu bewältigen.

Wünschenswert wäre deshalb eine Denkweise, wonach die Menschen die Welt, von der sie leben, nur von kommenden Generationen geliehen haben.

Würde die Lebenserwartung der Menschen mehrere hundert Jahre betragen, wäre es denkbar, dass einige der gegenwärtigen Probleme im Naturschutz und Umweltschutz nicht existieren würden.

Resümee mit Unterteilung und Arten

Aus den zuvor dargestellten Problemen und Fragestellungen ergibt sich, dass eine anthropozentrische Umweltethik in zwei Arten unterteilt werden kann: in eine Anthropozentrik im engeren Sinne und in eine Anthropozentrik im weiteren Sinne.

Beide Ansätze betrachten die Menschen als das Maß aller Dinge und gestehen nur den Menschen Eigenrechte zu; sie unterscheiden sich jedoch innerhalb dieses Rahmens fundamental.

Im engeren Sinne

Eine anthropozentrische Umweltethik im engeren Sinne berücksichtigt nur die Interessen von bestimmten Menschen auf der Welt.

Bezieht sie sich auf einzelne Menschen, kann sie als egozentrische Umweltethik bezeichnet werden, solange die Übervorteilung anderer Menschen nicht beabsichtigt und bekannt ist.

Ist die mit einem bestimmten Verhalten verbundene Übervorteilung anderer Menschen beabsichtigt oder bekannt und führt zu keiner Verhaltensänderung, kann von einer egoistischen Umweltethik gesprochen werden.

Bezieht sich eine anthropozentrische Sichtweise auf eine bestimmte Gruppe von Menschen auf der Welt, kann sie als oligoistische oder elitäre Umweltethik bezeichnet werden.

Bezieht sich eine anthropozentrische Sichtweise auf eine bestimmte Region, ein bestimmtes Land oder bestimmte Länder auf der Welt, kann sie als regionale oder nationale Umweltethik bezeichnet werden.

Eine anthropozentrische Umweltethik im engeren Sinne eignet sich aufgrund der beschränkten Erkenntnisfähigkeit der Menschen nicht dafür, um langfristig ihre natürlichen Lebensgrundlagen auf der Erde zu erhalten.

Wie erläutert, sind die Zusammenhänge in der Natur zu komplex, um rationale Entscheidungen darüber treffen zu können, welche Tier- und Pflanzenarten für die Menschheit lebenserhaltend sind und welche nicht.

Im weiteren Sinne

Eine anthropozentrische Umweltethik im weiteren Sinne berücksichtigt die Interessen von allen Menschen auf der Welt in der Gegenwart und in der Zukunft.

Sie behandelt also die Interessen der Menschen in Entwicklungsländern und Industrieländern gleichwertig und beachtet die Interessen künftiger Generationen im Sinne einer intergenerativen Gerechtigkeit.

Konkret beinhaltet dies den Erhalt nicht erneuerbarer Bodenschätze und der Artenvielfalt von Pflanzen und Tieren, die durch menschliche Eingriffe in die Natur gefährdet sind.

Folglich werden auch andere Lebewesen wie Pflanzen und Tiere sowie die Natur berücksichtigt, soweit es

Dies bedeutet nicht, dass anderen Lebewesen Eigenrechte zugesprochen werden: Naturschutz, Umweltschutz und Tierschutz finden im Anthropozentrismus stets nur im Interesse der Menschen statt.

Erst die pathozentrische Umweltethik spricht leidensfähigen Tieren, erst die biozentrische Umweltethik spricht allen Lebewesen und erst die holistische Umweltethik spricht der Natur auch Eigenrechte zu.


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Literaturangaben und Anmerkungen:

[1] Teutsch, Gotthard M. (1985), Lexikon der Umweltethik, Düsseldorf, S. 8–9.

[2] Teutsch, Gotthard M. (1987), Mensch und Tier: Lexikon der Tierschutzethik, Göttingen, S. 16.

[3] Aristoteles: Politik 1256 b 15 - 20, in der Übersetzung von Rolfes, Eugen (1981), Philosophische Bibliothek, Band 7, Verlag Felix Meiner, Hamburg, S. 16.

[4] Teutsch, Gotthard M. (1985), Lexikon der Umweltethik, Düsseldorf, S. 8–9.

[5] Ebenda, S. 9.

[6] Ebenda, S. 10.

[7] Ebenda, S. 8.

[8] Naturschutzjugend (NAJU) im NABU (2015): Fokus Biologische Vielfalt – Von der Naturerfahrung zur politischen Bildung, Aktionsheft für Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe (Digital), Berlin, S. 5.

[9] Sitte, Peter/Weiler, Elmar/Kadereit, Joachim W./Bresinsky, Andreas/Körner, Christian: Lehrbuch der Botanik für Hochschulen. Begründet von E. Strasburger. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2002 (35. Aufl.), S. 10.

[10] Wernicke, C. (1992): Die Schuld der Gläubiger, in: ZEIT-Punkte, Nr.1/92, Ein Gipfel für die Erde – Nach Rio: Die Zukunft des Planeten, S. 63–64.

[11] Gore, Al (1992), Wege zum Gleichgewicht – Ein Marshallplan für die Erde, Frankfurt am Main, S. 131.

[12] Ebenda, S. 131.

[13] Gardner, Robert Allen (2007): Review of sign language studies of cross-fostered chimpanzees. Journal of the Washington Academy of Sciences, Volume 93, Number 1, S. 37–57.

[14] Savage-Rumbaugh, Emily Sue/Rumbaugh, Duane Marwin/Boysen, Sarah (1980): Do apes use language? One research group considers the evidence for representational ability in apes, American Scientist, Volume 68, Number 1, S. 49–61.

[15] Newen, Albert (2011) in: Spektrum der Wissenschaft, Ausgabe April 2011, Serie Philosophie (Teil 4) – Was ist der Mensch? - Das Verhältnis von Mensch und Tier, S. 5–6.

[16] Wilhelma Magazin, Ausgabe 1, Frühjahr 2016, Tierethik – Von Intelligenz und Bewusstsein der Tiere, S. 11–15.

[17] Literatur zum Spiegeltest, der erfolgreich bei Tieren durchgeführt wurde:

Avolios, Carla (2024): Barsche treiben`s bunt, in: Max Planck Forschung, Ausgabe 02/2024, S. 64.

Prior, Helmut/Schwarz, Ariane/Güntürkün, Onur (2008): Mirror-Induced Behavior in the Magpie (Pica pica): Evidence of Self-Recognition, erschienen in: PLoS Biology, August 2008, Volume 6, Issue 8, e202, S. 1–9, doi:10.1371/journal.pbio.0060202

Wilhelma Magazin, Ausgabe 1, Frühjahr 2016, Tierethik – Von Intelligenz und Bewusstsein der Tiere, S. 8–9.

[18] Nielsen, Mark/Suddendorf, Thomas/Slaughter, Virginia (2006): Mirror self-recognition beyond the face, University of Queensland, erschienen in: Child Development, January/February 2006, Volume 77, Number 1, S. 183.

[19] Low, Philip (2012): The Cambridge Declaration on Consciousness. Proceedings of the Francis Crick Memorial Conference, Churchill College, Cambridge University, July 7, 2012, S. 1–2 (freie Übersetzung)

[20] Andrews, K./Birch, J./Sebo, J./Sims, T. (2024): Hintergrund der New Yorker Erklärung zum Tierbewusstsein, nydeclaration.com.

[21] Animal Public e. V./Born Free Foundation/Bund gegen Missbrauch der Tiere e. V. (2012): Der EU-Zoo-Report 2011, Länderbericht Deutschland, S. 22.

[22] Kaiser, Reinhard (1981): Global 2000 – Der Bericht an den Präsidenten, 12. Aufl., Zweitausendeins Verlag, Frankfurt a. Main, S. 615.

[23] Kant, Immanuel (1797), Metaphysik der Sitten, Teil 2: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, § 17, neu hrsg. v. Ludwig, Bernd (1990), Hamburg, S. 84.

Anmerkung: Bekannt geworden ist Immanuel Kant in der Zeit der Aufklärung durch seine Werke, wie „Kritik der reinen Vernunft“ (1781), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) oder „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788). Sie kennzeichnen den zentralen Wendepunkt in der Philosophiegeschichte und den Beginn der modernen Philosophie.

[24] Ebenda, S. 84–85.

[25] Harborth, Hans-Jürgen (1991): Dauerhafte Entwicklung statt globaler Selbstzerstörung – eine Einführung in das Konzept des Sustainable Development, Verlag: Edition Sigma, Berlin, S. 15.

[26] Höffe, Otfried (1979): Ethik und Politik – Grundmodelle und -probleme der praktischen Philosophie, Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 266, Frankfurt am Main, S. 163.

[27] Rawls, John (1994): Eine Theorie der Gerechtigkeit (Einheitssachtitel: A theory of justice), 8. Auflage, übersetzt von Hermann Vetter, Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 271, Frankfurt am Main, S. 150.

[28] Ebenda, S. 159.

[29] Ebenda, S. 160.

[30] Höffe, Otfried (1979): Ethik und Politik – Grundmodelle und -probleme der praktischen Philosophie, Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 266, Frankfurt am Main, S. 167, 168, 179.


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